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Wulf Gallert Der selbstbewusste Preuße

Die Volksstimme stellt vor der Wahl die Spitzenkandidaten der im Landtagsfraktionen vor. Erster Teil: Wulf Gallert (Linke).

Von Michael Bock 03.03.2016, 00:01

Magdeburg l Es ist ein Tag im vorigen November, knapp dreieinhalb Monate vor der Landtagswahl. Wulf Gallert hat zu einer Pressekonferenz im Herzen Berlins eingeladen. Im Edel-Italiener Il Punto ist ein Mann zu erleben, der es im dritten Anlauf wissen will. Der 52-Jährige sagt vor Hauptstadtkorrespondenten bestimmt: „Es wird zu einem Regierungswechsel kommen.“ Kein „aber“. Kein „vielleicht“. Kein „könnte“. Es wird. Mit ihm als Ministerpräsidenten. Basta! So klar hat er seinen Machtanspruch bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht formuliert.

Der Ort des offen demon­strierten Selbstbewusstseins ist mit Bedacht gewählt: In genau diesem Restaurant in genau diesem Zimmer stellte sich im Thüringer Landtagswahlkampf auch Bodo Ramelow der Berliner Journaille vor. Einige Monate später wurde er erster linker Ministerpräsident in Deutschland.

Ramelow – er hat vorgemacht, wie es gehen kann. Bei Gallerts Kür zum Spitzenkandidaten im April 2015 sagte er launisch: „Auch nach 130 Tagen mit einem linken Ministerpräsidenten gibt es in Thüringen noch Bananen.“ Und: „Es gibt 1000 Gründe, Wulf Gallert zu wählen. Nur einen möchte ich nennen: Lasst mich im Bundesrat nicht allein.“

Dass Ramelow im sachsen-anhaltischen Landtagswahlkampf nicht allzu oft aufgetreten ist, findet Gallert nicht schlimm. „Die beste Wahlkampfhilfe von Ramelow ist gute Politik in Thüringen“, sagt er. „Das strahlt positiv auf Sachsen-Anhalt aus und ist für uns eine Ermutigung.“

Nerven ihn die Vergleiche mit Ramelow? Nein, das nicht. Aber dass er immer diese Frage gestellt bekommt, „das nervt schon ein bisschen“. Denn: „Sachsen-Anhalt ist Sachsen-Anhalt. Wir sind nicht Thüringen 2.0.“ Und überhaupt: Der Hauptwahlkämpfer sei ohnehin er selbst, sagt Gallert. „Bis zum letzten Blutstropfen werden wir kämpfen“, hat er bei seiner Kandidatenkür versprochen. Zu solch markigen Sätzen lässt er sich nicht allzu oft hinreißen. Gallert gehört dem Realoflügel an, ein Wolkenkuckucksheim-Bauer ist er nicht. Ein guter Redner schon: Er spricht frei, scharfzüngig, angriffslustig, pointiert, kenntnisreich. Er spitzt zu. Manchmal überspitzt er.

„Er ist einer der besten Redner“, erkennt auch CDU-Fraktionschef André Schröder an. Er bescheinigt Gallert eine „sehr gute Fehleranalyse“, denn: „Er kann sehr schnell erkennen, wo man den Finger in die Wunde legt.“

Das einst innige Verhältnis von Gallert und Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) ist zwar inzwischen recht abgekühlt, beide haben sich politisch entfremdet. Gleichwohl lobt Bullerjahn: „Wulf ist nach wie vor einer der herausragenden Politiker in Sachsen-Anhalt.“ Linke-Landeschefin Birke Bull bezeichnet ihn als „kämpferisch, mit klarem politischem Verstand, menschlich integer“.

Gallert wird 1963 in Havelberg geboren. Er stammt aus einem politischen Elternhaus. Beide Eltern sind Lehrer. Auch Sohn Wulf macht in Magdeburg eine Ausbildung als Lehrer, die er mit einem Staats­examen abschließt. Ende der 80er Jahre studiert er Pädagogik in Leipzig, später Politik in Magdeburg. 1990 ist er als Lehrer tätig. Er selbst hat mal gesagt: „Ich bin ein preußischer Grundschullehrer.“ 1994 leitete er ein Jugendzentrum, dann geht es in die Politik.

Bereits 1986 ist Gallert in die SED eingetreten und kommt darüber zunächst zur PDS und dann zur Linkspartei. Nach der Wende ist er anfangs in der Kommunalpolitik aktiv, 1994 zieht er in den Landtag. Er wird auf Anhieb Fraktionsgeschäftsführer der PDS, die eine Minderheitsregierung unter SPD-Chef Reinhard Höppner tolerierte – das „Magdeburger Modell“.

Gallert, in dieser Zeit oft angefeindet, profiliert sich als Taktiker und Stratege. Plötzlich muss er über milliardenschwere Landeshaushalte mit verhandeln. Gallert hat mal erzählt: „Ich hatte niemals so viel zu sagen wie damals.“ Er habe aber auch niemals so wenig Ahnung davon gehabt, „was ich eigentlich mache“. Das mag ein wenig übertrieben klingen. Auf jeden Fall holt sich Gallert in diesen Jahren das politische Rüstzeug. Der Absturz der SPD auf 20 Prozent 2002 bedeutete das Ende des „Magdeburger Modells“.

In der Linken ist Gallert unbestritten die Nummer eins. Sein Problem ist, dass er das zuweilen auch andere spüren lässt. „Autoritär“ sei er, wird in den eigenen Reihen erzählt. Nicht wenige empfinden ihn als arrogant, kühl und distanziert. „Er verströmt keine Herzlichkeit“, heißt es.

Stimmt das, Herr Gallert? „Ich bin kein Kumpeltyp“, sagt er. Kurze Pause. „Nein, das bin nicht.“ In der Politik, so sagt er, verliere man häufiger, als dass man gewinne. „Man darf sich von politischen Auseinandersetzungen nicht auffressen lassen“, sagt er nachdenklich. „Ich brauche Distanz, um nicht alles direkt durchschlagen zu lassen“, sagt Gallert. „Aber Distanz“, so schiebt er schnell hinterher, „ist kein Zeichen von Missachtung.“ Und: „Ich könnte den Leuten ja etwas vorgaukeln. Das ist aber nicht mein Ding.“

Das Haupt-Wahlplakat bestärkt Kritiker. Darauf ist ein ernst blickender Gallert zu sehen, dazu die Sätze: „Ich kann. Ich will. Ich werde.“ „Egozentrische Cäsarenpose“, höhnt die CDU. „Großkotzig“, findet ein aufstrebender Sozialdemokrat das Plakat. In der SPD, Gallerts Wunsch-Koalitionspartner, gibt es ohnehin seit langem Vorbehalte gegen seine Person.

Das geht so weit, dass SPD-Chefin Katrin Budde in einem von Gallert geführten Kabinett nicht Ministerin werden will. Gallert versteht das überhaupt nicht. „Ich bin doch ein netter Kerl“, hat er Budde mal zugerufen. Die lächelte freundlich zurück – und schwieg. „Möglicherweise rechnet mir manch einer Durchsetzungsfähigkeit als Manko an“, sagt Gallert. Er ist, so erzählen viele seiner langjährigen Mitstreiter, weicher, als viele denken. Leute, die ihn sehr gut kennen, sagen: „Er hat einen Schutzpanzer angelegt, um nicht zu viel an sich heranzulassen. Es dauert ein wenig, persönliche Nähe zu finden.“ Aber auch: „Er hat emotionale Intelligenz. Wenn es mal Probleme gibt, kann er sich sehr gut in andere Menschen hineinversetzen. Er hat ein gutes Gespür für das Zwischenmenschliche. Für ihn gilt der Spruch: harte Schale, weicher Kern.“

Gallert ist verheiratet mit einer Hochschulprofessorin, er hat zwei Söhne. Einer kam mit dem Down-Syndrom auf die Welt. Den anderen, ein Kind mit schwarzafrikanischem Vater, haben seine Frau und er kurz nach dessen Geburt adoptiert. Gallert gilt als Familienmensch, der in seine Söhne geradezu vernarrt ist. Bullerjahn sagt anerkennend: „Er versucht, die Balance zwischen Familie und Politik zu halten.“

Jetzt aber ist Wahlkampf, viel Stress, wenig Zeit für die Familie. Es ist Ende Februar, die Linke verteilt in Tangermünde an einem Infostand Kartoffelsuppe. Es ist kalt, es nieselt, kaum ein Mensch auf der Straße, Gallert friert. „Dass der Wahlkampf im Winter stattfindet, ist besonders schön“, sagt er. Er trägt eine rote Küchenschürze, auf der steht: „Wir kochen’s hoch.“

Was soll das bedeuten? Gallert hat keine Ahnung. „Leute, was heißt das?“, fragt er die Mitfrierenden. Achselzucken. „Vielleicht ist das im Sinne von Transparenz gemeint“, sagt Gallert. Er wirkt verloren an diesem Stand, mit roter Schürze und roter Nase.

Wenig später taut er auf. In den Räumen der Volkssolidarität ist es kuschelig warm. Der Raum ist überschaubar gefüllt, Sympathisanten der Linken, ein Heimspiel.

Gallert macht einen Streifzug durch die Landespolitik. Eine Million Unterrichtsstunden sind im vorigen Jahr ausgefallen, die Kommunalfinanzen wurden zusammengestrichen, die CDU/SPD-Landesregierung hat 1200 Stellen bei der Polizei abgebaut. „Und jetzt will es keiner gewesen sein“, sagt er. Die SPD hat ein Wahlplakat, auf dem gefordert wird, dass Polizei wieder sichtbar wird. „Da habe ich mich erstmal verschluckt“, sagt Gallert.

Er bedauert, dass landespolitische Themen derzeit von der Flüchtlingsdebatte überlagert werden. Er sagt: „Jemand, der vor dem Tod flieht, den hältst du nicht auf. Es sei denn, du bedrohst ihn mit dem Tod.“ Das könne nicht der Ansatz der Linken sein. Gallert weiß, dass der flüchtlingsfreundliche Kurs seiner Partei Wählerstimmen kosten kann. Das nimmt er in Kauf. Er vertritt glasklare Positionen, ist prinzipientreu.

Auf alle Fragen kann er fundiert antworten. Gallert beschreibt sich so: „Ich bin ein politischer Generalist. Ich begebe mich nur selten in die Details einer Fachfrage. Mich interessiert der Konflikt, der hinter jeder Sache steht. Meine Aufgabe ist es dann, Lösungsmöglichkeiten auszuloten.“

Andere sagen über ihn: „Ein Aktenfresser ist er nicht. Er erkennt aber sofort den Kern eines Problems.“ Und: „Egal, ob er mit einem Hochschullehrer oder einem Hartz-IV-Empfänger spricht – Wulf steckt immer im Stoff. Er hat ein unwahrscheinlich breites Wissen.“ Gallert sagt: „Ich bin ein Zahlenfetischist, ziemlich analytisch.“

Es geschieht nicht allzu oft, dass man den 1,88-Meter-Mann aus der Ruhe bringen kann. Selbst gelegentliche Wutausbrüche wirken kontrolliert. Wenn es Kritik gebe, versuche er stets zu argumentieren, sagt ein Gallert-Kenner. Andere erleben es so: „Er quatscht die Leute tot.“

Die meisten wissen: Erst wenn Gallert einen roten Kopf bekommt, wird es ernst. Das passiert vor allem dann, wenn hinter seinem Rücken gemauschelt wird. „Das ärgert ihn am meisten“, erzählt ein Fraktionsmitglied. „Er bevorzugt das offene Visier.“ Gallert selbst antwortet auf die Frage nach dem schlimmsten Moment als Berufspolitiker: „Wenn man den Vorwurf bekommt, seiner Verantwortung nicht gerecht zu werden.“

Was sind seine Schwächen? Da hört man eher Unverfängliches. Helga Paschke, eine lange politische Wegbegleiterin, verrät augenzwinkernd: „Ungemütlich wird er, wenn es nicht pünktlich Essen gibt.“ Darauf haben sich die Parteifunktionäre bei Besuchen Gallerts inzwischen eingestellt. Und wenn es mal nicht klappt. „Dann halte ich durch“, sagt Gallert und schmunzelt. „Aber ich kriege nicht unbedingt bessere Laune.“ Der Spitzenmann der Linken gilt als Genießer. Er mag Whiskey und speist gern in guten Restaurants. Auf dem Heimtrainer schwitzt er dann überflüssige Pfunde weg. „Viermal in der Woche, jeweils eine halbe Stunde, hohe Belastung.“ Da ist er wieder, der disziplinierte Preuße.

Was hat er in über 20 Jahren im Landtag gelernt? „Es ist wichtig, Menschen in Entscheidungsprozesse einzubinden und Beschlüsse zu treffen, mit denen alle leben können“, sagt er. „Das ist die höhere Kunst, als Recht zu haben.“

Und warum will er den Politikwechsel? „Ich will unser Land aus der politischen Stagnation führen“, sagt er. Auf seiner Weihnachts-Grußkarte hat Gallert ein Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1969–1974, SPD) verwandt: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“

Bei der Volkssolidarität in Tangermünde wird eine Wahlkampfzeitung verteilt. Auf Seite eins ein Foto von Gallert, dazu die Überschrift: „Ich kann. Ich will. Ich werde.“ Umfragen sehen derzeit nicht mehr so gut aus wie im November. Es gibt keine Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Gallert bleibt optimistisch. Wahlprognosen? Ach was! „Das ist ein Blick in die Glaskugel.“

Dann sagt er: „Der Bürgermeister hat mich hier in der Hanse- und Kaiserstadt begrüßt.“ Kaiser? Das passt nicht ganz. „Ich möchte nur Ministerpräsident werden“, sagt Gallert und lächelt. „Da habe ich meine Ambitionen doch schon herunterschraubt.“