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Darmkrebs Sägen und Singen gegen die Angst

Rund 1800 Sachsen-Anhalter erkranken jährlich an Darmkrebs. Daniela Bradatsch aus Tangerhütte traf die Diagnose im vergangenen Herbst.

Von Elisa Sowieja 25.03.2016, 00:01

Tangerhütte l Ohne den dünnen Plastikschlauch, der aus ihrem T-Shirt-Kragen baumelt, könnte man sich kaum vorstellen, dass Daniela Bradatsch erst gestern wieder bei der Chemotherapie war. Vier Stunden lang hing sie im Krankenhaus am Tropf, jetzt wird aus der Flasche in ihrer Bauchtasche noch eine Zwei-Tages-Dosis nachgepumpt. Während das Gift durch den Schlauch wandert, hockt Bradatsch mit einem quietschgrünen Kaffeebecher in der Hand auf der Sesselkante und plaudert über ihre Pläne für Ostermontag: Sie wandert auf den Brocken.

Dabei hat die Tangerhütterin noch heute Mittag sechs Minuten für den Fußmarsch zur Mutti gebraucht, den sie sonst in zwei packt. „Meine Luftröhre verkrampft jetzt wieder, da fällt das Atmen schwer. Aber in ein paar Tagen müsste sich das geben“, erzählt sie, als ginge es um einen hartnäckigen Schnupfen.

Im Oktober haben Ärzte bei Bradatsch Darmkrebs festgestellt. Mit erst 43 Jahren ist sie dafür außergewöhnlich jung. Im Schnitt sind neun von zehn Patienten bei der Diagnose älter als 50. Wer jünger ist, bei dem liegt die Krankheit oft in der Familie – doch auch das ist bei ihr nicht der Fall. Entdeckt wurde sie bei Bradatsch, nachdem sie zufällig auf ihrem Stuhl Ablagerungen entdeckt hatte. „Die Ärzte dachten erst, es wären Hämorrhoiden. Sie meinten, für Darmkrebs sei ich zu jung“, erzählt sie.

Darmspiegelungen widerlegten das allerdings. Kurz darauf wurden der Altmärkerin ein Stück des Dickdarms und die Lymphknoten im direkten Umfeld entfernt. Ein künstlicher Darmausgang musste nicht gelegt werden. Dafür brachte die Untersuchung der Knoten die nächste Hiobsbotschaft mit sich: Der Krebs hatte schon drei von ihnen befallen.

Seitdem muss die Krebspatientin alle 14 Tage nach Magdeburg in eine Arztpraxis zur Chemotherapie. Die Behandlung macht sich nicht nur in der Luftröhre bemerkbar. Ihre Finger sind manchmal so kälteempfindlich, dass Bradatsch ihre Wäsche mit Handschuhen aufhängt. Und zum Mittag geht sie jeden Tag zur Mutter, weil ihr bei Essensgerüchen in ihrer eigenen Wohnung permanent übel wäre. Doch sie hat die Nebenwirkungen akzeptiert. Die Altmärkerin bringt es ganz pragmatisch auf den Punkt: „Das Risiko, dass sich der Krebs weiter ausbreitet, liegt momentan bei 33 Prozent. Also muss ich da jetzt durch.“

Mit dem gleichen Pragmatismus begegnet Daniela Bradatsch auch ihrer Angst vor dem Tod. „Ich versuche meine Emotionen auszuschalten, weil sie mich behindern“, erzählt sie. Klingt in der Theorie durchaus sinnvoll. Aber wie schafft man es, das mit dem Krebs im Nacken tatsächlich umzusetzen? Mit einem Trick, erklärt sie: „Wenn ich merke, die Angst kommt wieder hoch, sage ich mir innerlich ‚Stopp‘ und lenke mich sofort ab.“

So kommt es, dass sie manchmal mitten in der Nacht aufsteht, ins Arbeitszimmer tapst, sich eine Sperrholzplatte auf einem Metallkoffer zurechtlegt und anfängt zu sägen. Schafe, Lämmer, Ostereier. Wenn das nicht reicht, holt sie sich ihren MP4-Player dazu, setzt die Kopfhörer auf und dreht laut. Volle Pulle Sarah Connor. „Ich singe natürlich immer mit! Dann fühl ich mich gleich leichter.“ Und die Nachbarn? „So schlimm kann mein Gesang nicht sein. Es hat sich noch keiner beschwert“, flachst sie.

Nun funktioniert dieser Trick nicht bei jedem. Dass Bradatsch ihre Emotionen so gut steuern kann, liegt sicherlich mit daran, dass sie sich, ohne es zu wissen, schon vor Jahren auf ihre psychische Zerreißprobe vorbereitet hat: Parallel zu ihrem Job im Gesundheitsamt des Landkreises machte sie noch ein Fernstudium zur psychologischen Beraterin. Zu dieser Zeit bearbeitete die Altmärkerin manchmal Beispielfälle, die verblüffend nahe an ihrer heutigen Realität lagen. Einmal sogar galt es, einer Frau zu helfen, deren Mutter an Krebs erkrankt war.

Doch ganz allein, sagt Daniela Bradatsch, wäre sie im Kampf gegen den Krebs auch mit der besten Psychologie-Ausbildung verloren. „Ich bekomme jeden Tag Anrufe und Whatsapp-Nachrichten von Familie, Freunden und Kollegen“, erzählt sie. „Das gibt mir viel Kraft.“

Ihrem Umfeld hat die 43-Jährige nach ihrer Diagnose eine kleine Vorsorgewelle losgetreten. Cousinen und Nachbarn holten sich Termine für eine Dickdarmspiegelung. Seit 2002 zahlen die Krankenkassen diese Vorsorgeuntersuchung für Versicherte ab dem 56. Lebensjahr. In Anspruch genommen haben sie laut Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland von 2003 bis 2014 aber erst 24 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer zwischen 55 und 74 Jahren.

Das Robert-Koch-Institut hat Vorsorgemuffel nach Gründen befragt: Demnach geben mehr als ein Drittel entweder an, dass sie vor der Untersuchung Angst haben oder dass sie ihnen unangenehm wäre. Beides sei aber nicht nötig, sagt Dr. Ulrike von Arnim, Oberärztin an der Magdeburger Uniklinik für Gastroenterologie: „Wir haben inzwischen wunderbare Medikamente, um die Untersuchung absolut schmerzfrei durchzuführen.“ Dabei werde der Patient sediert, so dass er währenddessen schläft. Allerdings würden nicht alle niedergelassenen Ärzte Dickdarmspiegelungen unter Sedierung anbieten.

Vor vier Jahren hat Daniela Bradatsch im Fernsehen einen Werbespot mit Vitali Klitschko gesehen. Da erzählte er, dass er mit seiner Frau als Liebesbeweis nicht zum Essen geht, sondern zur Darmspiegelung. Sie erinnert sich noch, was sie damals dachte: „Also ich weiß ja nicht, ob ich mich über so ein Geschenk freuen würde ...“