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Grenze Marienborn Passkontrolleure gegen Zöllner

Nach jahrelanger Forschungsarbeit ist jetzt ein Buch über die DDR-Grenze in Marienborn erschienen. Es zeigt das Innenleben des Übergangs.

Von Oliver Schlicht 30.03.2016, 01:01

Magdeburg l Wie war die „Grenzübergangsstelle“ (GÜSt) Marienborn organisiert? Wie sahen das Innenleben und die Befehlsstrukturen aus? Wer hat wen ausspioniert? Diese und andere Fragen werden in einem Buch beantwortet, das jetzt in einer wissenschaftlichen Reihe der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt erschienen ist.

Die elf Autoren haben sehr akribisch Daten zusammengetragen, die eine Sicht auf das Innenleben dieser Nahtstelle des Kalten Krieges zulassen. In zehn Aufsätzen geht es zum Beispiel um den Bau der Anlagen in Marienborn und Helmstedt, den Alltag der Kontrolleure in der Wohnsiedlung Wefensleben und um die militärische Bedeutung des Grenzpunktes in den Kriegsszenarien in Ost und West.

Die 35 Hektar große Anlage auf Ostseite, wie sie heute noch als Gedenkstätte existiert, wurde von 1972 bis 1974 errichtet. Zuvor kontrollierten zunächst Grenzpolizisten zu beiden Seiten der Demarkationslinie aus Postenhäusern und Baracken heraus den Reiseverkehr. Erst nach dem Mauerbau 1961 wurde das Terrain zu einer hermetisch abgeschlossene Grenzanlage.

Der Osten riegelte ab und rüstete auf. 1959 zählte ein Bericht der Grenzschutzstelle Helmstedt, dass auf einen Beamten am Posten Helmstedt 22 Grenzer im Osten kamen. 1961 kam Verstärkung. 75 Grenzern im Westen standen dann 350 im Osten gegenüber. Auf Ostseite gehörten Maschinenpistolen, Gewehre, Granatwerfer und Schützenpanzerwagen zur Ausrüstung. Der Bundesgrenzschutz (BGS) im Westen zählte 1961 „sieben Pistolen und ausreichend Stahlruten“, heißt es in einem Bericht.

Bonn verweigerte aus politischen Gründen in den 1960er Jahren lange Zeit den Aufbau einer großen zwischenstaatlichen Grenzstation. Der gewaltig anschwellende Reiseverkehr, die RAF-Terrorismusbekämpfung und die Entspannungspolitik Anfang der 1970er Jahre führten zum Umdenken. Nach dem GÜSt-Ausbau bis 1974 in Marienborn wurde auch auf Helmstedter Seite bis 1977 ein neuer Grenzübergang gebaut – mit reichlich Baumängeln.

Der Fußboden der Kontrollhäuschen war dort zu hoch, weshalb die Beamten nicht an die aus den Autos herausgereichten Pässe kamen. „Die Arme der Beamten sind zu kurz“ spottete die „Braunschweiger Zeitung“.

Die Beamten mussten weiter draußen stehen. Nicht schön. Denn die Bedachung der Kontrollspuren war undicht und die Fahrspuren so schief, dass dort das Wasser nicht ablief. Und zu guter Letzt: Die zu hoch gebauten Tierverlade-Rampen verhinderten in Helmstedt ein Öffnen der Ladeklappen der Tiertransporter.

Mit dem Neubau der GÜSt wuchs die Mitarbeiterzahl im Osten ab 1974 auf knapp über 1000 an. Unter den 604 hauptamtlichen Stasi-Angehörigen arbeiteten 1989 540 als Passkontrolleure. Hinzu kamen Zöllner, der Leitungsstab, Funktionsoffiziere, Kraftfahrer, Reinigungskräfte, Sekretärinnen. Im Idealfall sollten in 24 Stunden vier Dienstzüge zu je 116 Mann und eine Frauenschicht mit 80 Damen die Kontrolle absichern. Doch durch das hohe Verkehrsaufkommen herrschte ständiger Mitarbeitermangel. 14-Stunden-Schichten waren keine Seltenheit.

Von 1969 bis 1971 hatte sich die Zahl der Reisenden von jährlich drei auf über sechs Millionen mehr als verdoppelt. Und sie wuchs stetig weiter. Von 1985 bis 1989 wurden 34,6 Millionen Reisende gezählt.

Um geeignetes Personal zu finden, wurden überdurchschnittliche 1200 DDR-Mark Gehalt und diverse Prämien und Zuschläge gezahlt. Im vier Kilometer entfernten Wefensleben wurden für die „GÜStlinge“ 16 Wohnblöcke mit 780 Wohneinheiten für bis zu 1800 Bewohner gebaut – 40 Prozent davon komfortable Vier-Raum-Wohnungen. Es gab eine Kaufhalle, eine Schule, Turnhalle, Arztpraxen, Apotheke und Geschäfte für Wurst- und Fleischwaren. Was es trotz alledem nicht gab, war eine „Insel der Glückseligen“.

Denn laut Stasi-Bericht von 1988 mangelte es an Handwerkern, zeitweise fehlte der Zahnarzt, und für die Ehefrauen gab es zu wenig Arbeitsplätze. Die Grenzer mussten ständig Überstunden schieben und waren selbst an den Wochenenden kaum bei ihren Familien. Sie arbeiteten bis zu 280 Stunden im Monat. Sie alterten schneller und wurden häufig krank.

Was nicht in diesem Bericht steht, aber von den Autoren zusammengetragen wurde, war eine ganz besonders perfide Form sozialer Zersetzung: Passkontrolleure gegen Zöllner. Die beiden Gruppen waren sich nicht freundlich gesonnen.

Im Dienst standen die Passkontrolleure im Rang über den Zöllnern. So mussten alle sichergestellten Dinge wie unerlaubte Literatur oder Schallplatten sofort den Passkontrolleuren übergeben werden. Die Kontrolleure kontrollierten auch die Zöllner – und zwar rund um die Uhr.

So war in Wefensleben jeder Hauseingang bei den Zöllnern mit mindestens einer Passkontrolleur-Familie belegt, um Stimmungen einzufangen und gegebenenfalls Mitteilung zu machen, ob irgendwer Westfernsehen schaut. Ehemalige Zöllner berichten von regelmäßigen Kontrollgängen am späten Abend in den Treppenhäusern der Wohnblöcke.

1975 wurden sechs Zöllner entlassen, weil sie von Reisenden Kugelschreiber als Geschenke angenommen hatten. Bei ihnen wurden auch Sexzeitschriften und Bierbüchsen gefunden. Interessanterweise wussten laut einem Stasibericht auch Angehörige der Passkontrolleinheit von dieser Sache. Sie wurden aber nicht entlassen.

Die Überwachung an der neuen GÜSt funktionierte ab 1974 wie am Fließband. Das Terrain war schattenlos ausgeleuchtet. Bei der Vorkontrolle der Einreise wurden die Fahrzeuge nach Ansicht der Pässe auf Fahrspuren aufgeteilt – und gegebenenfalls zur Tiefenkontrolle herausgewinkt. Im Normalfall erfragten die „Passabnehmer“ die Reiseziele und steckten die Unterlagen in Transporttaschen. Über ein Förderband kamen diese Taschen dann in einen fensterlosen Raum der Passkontrollbaracke.

Dort saßen die Stasi-Fahnder und durchsuchten Listen und Karteikarten nach „Schädlingen“. Später erlaubte eine „Fernsehfahndung“ die Übertragung aller Pässe aus dieser Baracke in das Stasi-Hauptgebäude der GÜSt. Die Pass-Stempelfarbe war chemisch gesichert. Die Pässe wurden bei der Ausreise mit Spezialstiften kontrolliert.

Hightech auch bei der „Tiefenkontrolle“: In einem Stasi-Sonderobjekt wurden Geräte eingesetzt, die durch Auflegen auf Stoßstangen Vibrationen, ausgelöst durch Herzschlag oder Atmung, registrieren konnten. Versuchsweise wurden die Autos bis 1980 auch mit leicht radioaktiven Gammastrahlen (Cäsium-137) durchleuchtet.

Reisende, die zur „Tiefenkontrolle“ mussten, wurden angewiesen, ihr Fahrzeug selbst zu zerlegen. Die Zöllner durften wegen entsprechender Vereinbarungen nicht persönlich Hand anlegen. Also reichten sie Werkzeuge, womit die Reisenden Verkleidungen demontierten oder Sitze ausbauten mussten. Das konnte mehrere Stunden dauern. Gegen Westmark wurde bei Bedarf auch ein Automechaniker benachrichtigt.

„Westmark“ (eine Mark etwa 50 Euro-Cent) – diese Verheißung schwebte von Beginn an über Marienborn wie das Füllhorn von Göttin Fortuna. Die GÜSt war eine riesige Devisen-Beschaffungsanstalt. War dem Kontrolleur die Seite eines Passes zu lose, musste eine „Identitätsbescheinigung“ (10 Westmark) mit Lichtbild (2 Westmark) ausgestellt werden. Und dann war da noch der Zwangsumtausch (ab 1980 25 Westmark pro Tag und Person). In den 1980er Jahren erwirtschaftete die GÜSt Marienborn jährlich Einnahmen von bis zu 40 Millionen Westmark.

Hinzu kam: Bis 1972 entrichtete jeder Berlin-Reisende nur für eine einzelne Autobahnnutzung nach oder von Westberlin fünf Westmark. Ab Juni 1972 überwies Bonn der DDR dann stattdessen einen jährlichen Pauschalbetrag – bis 1989 insgesamt 7,8 Milliarden Westmark.

Die Anhöhe Marienborn hätte – da waren sich die Militärs in Ost und West einig – im Kriegsfall eine wichtige Bedeutung gehabt. Im Buch werden die Sandkastenspiele von Strategen beider Seiten erörtert.

Ein solches Fundstück hinterlässt den Leser ratlos: Lachen oder weinen? Es betraf die 15 Mitarbeiter der Stasi-Kreisdienststelle Oschersleben. Die Übung „Prüfung 82“ aus dem Jahr 1982 nahm einen Nato-Atomschlag in der Börde an. Die 15 Genossen der Dienststelle sollten sich mit vier Trabant und einem Lada „verlegen“. Trotz angenommener Zerstörung von 60 bis 100 Prozent waren sie aufgefordert, sich an die Spitze der Aufräumarbeiten zu stellen und Umleitungen für die nachrückenden NVA-Truppen auszuschildern.

Wer genau aufräumen sollte, wo doch die Bevölkerung überwiegend dem Atomtod zum Opfer gefallen war, wurde in den Unterlagen zu „Prüfung 82“ nicht thematisiert.

Die „Grenzübergangsstelle Marienborn" (GÜSt) – so der offizielle Name – war der wichtigste Passierpunkt an der innerdeutschen Grenze. Über ihn lief der Großteil des Transitverkehrs zwischen Westdeutschland und Westberlin. Sie bestand zwischen 1945 und 1990. Die DDR errichtete auf einem Hügel 1,5 km hinter der Grenze auf DDR-Gebiet zwischen 1972 und 1974 einen 35 Hektar großen Komplex aus Gebäuden und Abfertigungshallen. Über 1000 Mitarbeiter der „bewaffneten Organe" taten Dienst. Im August 1996 wurde hier die „Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn" eingerichtet.

In einer Publikationsreihe der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt ist jetzt eine erste umfassende Darstellung der Arbeitsweise der Grenzanlage erschienen, die auf jahrelange Forschungsarbeit zurückgeht. Titel des Buches: „Mit den Autos kommt die Ideologie", 160 Seiten, Preis: 14,95 Euro, ISBN 978-3-95462-548-2. Beteiligt waren unter anderem das Zentrum für Militärgeschichte Potsdam, die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, die Universität Leipzig und die Technische Universität Braunschweig. Elf Autoren haben mitgewirkt.