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Stasi-Spitzel Ärzte suchen nach „Verrätern“

Nach einer Fluchtwelle im Jahr 1973 nahm die Stasi das Gesundheitswesen im Kreis Wernigerode besonders akribisch unter die Lupe.

Von Wolfgang Schulz 11.04.2016, 23:01

Wernigerode/Wolmirstedt l Von April bis November 1973 wurden aus dem Kreis Wernigerode im ehemaligen Bezirk Magdeburg in zwölf Aktionen insgesamt 25 Personen, darunter elf Angehörige der medizinischen Intelligenz, ausgeschleust. Sie kamen wohlbehalten in Westberlin an. Für die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit muss diese Fluchtwelle ein Trauma gewesen sein, meint Ulrich Mielke, der die damit verbundenen Aktivitäten der Stasi in seinem neuesten Forschungsheft vorstellt.

„Zum einen haben die ausgeschleusten Ärzte eine große Lücke in der medizinischen Versorgung hinterlassen, zum anderen waren die erfolgreichen Ausschleusungen eine riesengroße Blamage für den allgegenwärtigen Überwachungsstaat und Beispiel für ein eklatantes Versagen des Geheimdienstes“, sagt er. Bis 1989 sei die Stasi im Kreis Wernigerode diesen Albtraum nicht losgeworden.

Im September 1973 reagierte die MfS-Kreisdienststelle Wernigerode nicht zuletzt durch Druck aus Magdeburg und Berlin auf den „politisch-operativen Schwerpunkt des ungesetzlichen Verlassens von Angehörigen der medizinischen Intelligenz aus dem Kreis Wernigerode“ mit dem konspirativen Ermittlungsverfahren Operativ-Vorgang (OV) „Verräter“. Unter Einbeziehung von zahlreichen inoffiziellen Mitarbeitern (IM) wurden systematisch alle medizinischen Einrichtungen durchleuchtet und deren Angehörige bespitzelt.

Sechs Jahre später, am 24. August 1979, stellte die Stasi im Abschlussbericht zum OV „Verräter“ fest, dass „durch umfangreiche operative Kontroll- und Zersetzungsmaßnahmen erreicht werden konnte, dass nach 1973 keine weiteren Ausschleusungen erfolgten, die im Zusammenhang mit diesem operativen Schwerpunkt standen“. Insgesamt waren 33 Personen in diesem OV erfasst worden.

Die geheimnisvolle Ausschleusung von Menschen konnte die Stasi für diesen Zeitraum verhindern, den Willen vieler Einwohner des Kreises Wernigerode, die so nahe deutsch-deutsche Grenze zu überwinden, hat sie aber nicht unterdrücken können. Das zeigen die vielen Ausreiseanträge, deren Zahl in den 80er Jahren immer mehr zunahm. Darunter nicht wenige aus dem Gesundheitswesen. Für die Stasi eine weitere Sisyphusaufgabe, die sie mit Hilfe willfähriger Spitzel zu bewältigen versuchte.

Die „Antragsteller auf Ausreise in die BRD“ wurden mit allen erdenklichen Mitteln und Methoden eines Geheimdienstes möglichst lückenlos überwacht. Ziel war die Zurücknahme dieser Anträge. Gelang das, gab es für die IM sogar eine Prämie. Insgesamt spitzelten nach bisherigen Erkenntnissen aus dem Harzkreis mindestens 19 Mediziner für die Stasi. „Hierbei handelt es sich für Wernigerode um eine hohe IM-Dichte unter diesem Personenkreis“, so Mielke. Überraschend sei auch die Anzahl der IM unter den Zahnmedizinern: fünf seien Stasi-Spitzel gewesen.

Im Band 21 sind die Kreise Wernigerode und Wolmirstedt zusammengefasst. Eigentlich hätten Wernigerode und Halberstadt besser zusammen gepasst, aber der Band wäre wegen der großen Zahl der Spitzel zu dick geworden, sagt Mielke. Aus Wolmirstedt seien dagegen „nur“ noch 17 Meter Akten vorhanden, der überwiegende Teil sei von der Stasi in der Colbitz-Letzlinger Heide verbrannt worden. Aus dem Kreis Wernigerode lägen dagegen Aktenordner vor, die aneinandergereiht eine Länge von 143 Meter hätten.

Trotzdem seien aus dem Kreis Wolmirstedt noch neun Spitzel aus dem Gesundheitswesen ans Licht gekommen. Aus dem Kreis Wernigerode sind es 31 IM. Dazu kommen als Nachtrag zum Band 20 drei Spitzel aus den Kreisen Schönebeck und Staßfurt sowie zwei weitere, die schon in früheren Forschungsheften vorgestellt worden sind.

„Auch im Band 21 kommen wieder Fakten zutage, die in zwei Jahrzehnten Forschungsarbeit so noch nicht aufgetaucht sind“, resümiert Mielke. Dazu zähle das Anfertigen von Reisepässen durch die Fälscherabteilung des MfS, mit denen Spitzel in den Westen geschickt wurden. Tiefste Abgründe würden sich auch wieder bei der Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht auftun. Das Problem sei juristisch verjährt, aber nicht moralisch, sagt Mielke.

„Die Ärztekammern haben bei der Aufarbeitung der MfS-Vergangenheit ihres Berufsstandes versagt“, stellt er fest. In diesem Zusammenhang verweist Mielke auf den IM „Gerd Fröhlich“, einen Chirurgen, der von 1973 bis 1979 in Wernigerode als Oberarzt tätig war. „Er ist einer der abscheulichsten ärztlichen IM, die uns in 22 Jahren Aufarbeitung begegnet sind.“ Der 1939 geborene Mann habe aus Habgier und Opportunismus mehr als 187 Kollegen und Patienten bespitzelt und dafür höchste Auszeichnungen und Geld erhalten.

Die MfS-Kreisdienststelle Wolmirstedt hatte andere Schwerpunkte als das Gesundheitswesen. Hier standen der Kalibetrieb in Zielitz, die Transit-Autobahn und der Mittellandkanal im Mittelpunkt. Bei der Überwachung der Bereiche wurden aber auch Mediziner eingespannt. So horchte der Allgemeinmediziner IM „Bernd Magnus“ die Führungsspitze des VEB Kalibetrieb Zielitz aus und wurde sogar als Spion mehrfach ins „Operationsgebiet“, also in die Bundesrepublik, geschickt. Die Wolmirstedter Stasi hatte als Besonderheit einen weiblichen Führungsoffizier. Frauen wurden nur sehr selten in dieser Funktion eingesetzt. Unglaublich sind auch die Methoden, mit denen die Pflegebedürftigen im Wolmirstedter Feierabendheim überwacht wurden und die im Forschungsheft dokumentiert sind.

Der heute 76-jährige Ulrich Mielke, der 39 Jahre als Biologe und Krankenhaushygieniker an der Medizinischen Akademie Magdeburg/Universitätsklinikum tätig war, erforscht seit 1994 im Zusammenwirken mit dem Dokumentationszentrum des Bürgerkomitees als Herausgeber die Verstrickungen der Stasi im Gesundheits- und Sozialwesen des Bezirkes Magdeburg. Einschließlich Band 21 hat er bisher 13 Kreise auf der Basis von Akten aus der Außenstelle Magdeburg der Stasi-Unterlagenbehörde abschließend bearbeitet.

Offen sind noch die ehemaligen Kreise Burg und Magdeburg (teilweise bereits bearbeitet), Halberstadt, Zerbst und Genthin. Allein in Magdeburg warten noch 50 bis 100 IM auf ihre Enttarnung. Außerdem beschäftigt sich Mielke mit dem enggestrickten IM-Netz im Rat des Bezirkes Magdeburg. Hierüber soll noch in diesem Jahr der dritte Band erscheinen.

Der Band 21 wird am Donnerstag, 14. April, ab 18 Uhr im Dokumentationszentrum des ehemaligen Stasi-Gefängnisses am Magdeburger Moritzplatz vorgestellt und kann dort auch gekauft werden. Der Eintritt ist frei.