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Stadtbücher Vergessene Schätze aus Papier

Forscher der Uni Halle decken auf, was Stadtschreiber vor Jahrhunderten notiert haben.

Von Hagen Eichler 03.05.2016, 01:01

Magdeburg l Die Vergangenheit knallt den Bauarbeitern mit lautem Gepolter vor die Füße. 40 mal 40 Zentimeter misst das von Mörtel umschlossene Paket, das die Bauleute 1998 zwischen den Deckenbalken eines Quedlinburger Fachwerkhauses entdecken und achtlos auf den Fußboden werfen. Doch aus den Trümmern schälen sich uralte Bücher: Drei hohe schmale Bände, handgeschrieben. Für Thomas Wozniak, den Sohn des Hausbesitzers, wird der Fund zum Start einer historischen Detektivarbeit – er will herausfinden, was die Bücher enthalten.

Heute, 18 Jahre nach dem Fund, ist Wozniak promovierter Historiker und gehört zu den besten Kennern von Quedlinburgs Vergangenheit. „Die drei Bücher enthalten Steuerlisten von 1547, 1548 und 1570“, erzählt der 42-Jährige, der als Assistent an der Uni Tübingen forscht. Die Bäume für die Balken des Fachwerkhauses wurden 1575 gefällt, wie eine Analyse der Jahresringe zeigte. Erbauer war der Ratsherr Adam Heune – er war es, der die Bücher aus dem Rathaus geschafft und dort versteckt haben muss. Wozniak hat auch eine Vermutung, warum: Der Stadtpolitiker wollte belastendes Material für die Nachwelt erhalten.

Denn zu Heunes Zeiten regierte in Quedlinburg eine Clique von Betrügern. Mehrere Bürgermeister und Ratsherren hatten sich mit dem Stadtschreiber verbündet und nutzten ihre Ämter, um sich schamlos zu bereichern. Die eingemauerten Bücher belegen die Einnahmen der Stadt – sie sind das, was man für einen Betrugsprozess bräuchte.

Historiker zählen die Aufzeichnungen zur Kategorie der Stadtbücher. Über Jahrhunderte hinweg haben Stadtschreiber darin festgehalten, was wichtig war und die Zeit überdauern sollte: geleistete Abgaben, Listen von Neubürgern, Gerichtsverhandlungen, Ratsbeschlüsse.

Die auf den ersten Blick trockene Kanzleiprosa lässt bei Historikern die Augen glänzen. Zwar wurden Stadtbücher auch schon im 19. Jahrhundert zu einzelnen Fragen untersucht. Wer etwa die Lebensumstände von Johann Sebastian Bach aufhellen wollte, wurde dort fündig. Doch erst in den letzten Jahren hat die Zunft erkannt, welcher Datenschatz in den Archiven lagert.

Ein Forschungsprojekt der Uni Halle will ihn heben. Vier Millionen Euro hat der Historiker Andreas Ranft bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworben, um sämtliche Stadtbücher Deutschlands in einer Datenbank zu erfassen. „Index Librorum Civitatum“ heißt das Projekt in gelehrtem Latein, auf www.stadtbuecher.de lassen sich bereits 68 000 Bücher aus 440 Kommunen finden – den Grundstock liefert eine Erhebung von Historikern in der DDR. „Die Stadtbücher zeigen wie in einem Brennglas das rechtliche, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Handeln der Stadt“, schwärmt Ranft für das Quellenmaterial.

Der Professor für Geschichte des Mittelalters will anderen Wissenschaftlern die Augen öffnen für das, was in abgelegenen Archiven die Jahrhunderte überdauert hat. Koordinator des Projekts ist Christian Speer – der wissenschaftliche Mitarbeiter fahndet in wissenschaftlicher Literatur und im Internet nach weiteren Stadtbüchern, fährt aber auch mit dem Laptop los, um Schätze zu dokumentieren. Vor allem in Kleinstädten wird er fündig.

In Kroppenstedt im Landkreis Börde etwa hat er zahlreiche Bände im Turm des Rathauses entdeckt. „Wir haben da Kalenderdrucke aus dem 16. Jahrhundert gefunden, die der Wissenschaft unbekannt waren“, berichtet Speer. In Görlitz fand er eine unbekannte Glosse zum Sachsenspiegel, dem bedeutendsten Rechtsbuch des Mittelalters. Allein in der schlesischen Stadt lagern 6000 Stadtbücher.

Die Ratsschreiber, die die Werke angelegt haben, gehörten zur städtischen Elite. Während Bürgermeister und Ratsherren meist im Vier-Jahres-Rhythmus wechselten, waren sie auf Lebenszeit angestellt und gut bezahlt. „Weil sie die besten Kenner der städtischen Rechte waren, wurden sie auch als Diplomaten in Verhandlungen mit dem Landesherrn geschickt“, sagt Ranft.

Ihre Niederschriften sind als Zeitkapsel nahezu perfekt. Allerbestes Papier, ledergebunden zwischen dicken Eichendeckeln, mit Metallschließen zusammengehalten – richtig gelagert können einem solchen Buch Jahrhunderte kaum etwas anhaben. Oft lagerte das Gedächtnis der Stadt in Kirchen.

Deren dicke Mauern hielten die Temperatur konstant, Fenster sorgten für Belüftung. Die sogenannte Trese in der Lübecker Marienkirche, ein mit starken Gittern gesicherter Archivraum der Hansestadt, ist bis heute erhalten. In Sachsen-Anhalt gehören die Stadtbücher von Haldensleben zu den ältesten – die Aufzeichnungen beginnen im Jahr 1224.

Die Historiker, die das Mittelalter traditionell gern aus Chroniken und wappengeschmückten Urkunden deuten, fassen nun neue Aspekte ins Auge. „Die Fülle des Materials lässt sich gar nicht ermessen“, sagt Ulrike Hörold, Leiterin des Landesarchivs Sachsen-Anhalt. Ortsnamen, Personennamen, Wirtschaftsgeschichte, Sprachentwicklung – all das lasse sich künftig dank des halleschen Projekts leichter erforschen.

Hörold schickt eine fürsorgliche Warnung hinterher: „Die Arbeit mit solchen Quellen ist das Gegenteil von Googeln.“ Tatsächlich: Um die teils mehr als zehn Kilogramm schweren Bücher durchzuackern, braucht es viel Geduld. Kenntnisse in Mittelhochdeutsch und Latein sind hilfreich, manche sehr eigene Handschriften und längst vergessene Abkürzungen geben auch Experten Rätsel auf.

Die 1998 ans Tageslicht gekommenen Quedlinburger Stadtbücher haben ihre letzten Geheimnisse noch immer nicht verraten. Die enthaltenen Steuerlisten und Daten aus vielen anderen Stadtbüchern haben dem Tübinger Historiker Wozniak vieles gezeigt – etwa, wer die Besitzer der ältesten Häuser waren.

Doch selbst die Einbände könnten noch Erkenntnisse bringen: Dafür wurden Pergamente wiederverwertet, die viel älter sind. „Das sind herausgeschnittene Streifen von Messbüchern aus dem 14. Jahrhundert, vielleicht aus einem aufgelösten Kloster“, sagt Wozniak, „bislang hat die noch niemand untersucht.“

Historikern, so viel ist klar, geht die Arbeit niemals aus.