EIL

Syrer in Magdeburg Der Mutmacher

Als Jugendlicher kam Josef Omar aus Syrien nach Magdeburg. Nun ist er als Friseur ein Vorbild.

Von Mandy Ganske-Zapf 07.05.2016, 23:01

Magdeburg l "Am Anfang habe ich alle geduzt.“ Josef Omar muss lachen. Vor ihm dampft eine Tasse heiße Schokolade. Der junge Mann sitzt in einem Café an der Elbe in Magdeburg. Das Arabische kennt kein „Sie“, erzählt er. Seit er fließend Deutsch spricht, weiß er, wie das bei den Kunden angekommen sein muss. Die Chefin bekam ebenfalls ein freundliches „Du“ ab. Nach zwei Wochen habe sie ihn im Laden höflich beiseite genommen und einen Merkzettel an die Hand gegeben.

Er muss wieder auflachen und schaut aus dem Fenster auf die Skulptur, die dort zwischen Café, Wohnhäusern und Elbe steht. Ein Mann sitzt da auf einer von zig Uhren übersäten Kugel. Sie ticken nach den Zeiten anderer Länder, anderer Flüsse, vom Amazonas bis zum Mekong. Wo Josef Omar herkommt, gibt es auch einen Fluss. Er ist sich sicher, dass er die Elbe deshalb so mag.

In Tell Tamer, einer Kleinstadt im Nordwesten Syriens, hatte er bei seiner Familie gelebt, ging zur Schule und machte seinen Abschluss. Dort, am Chabur, war er früher mit Freunden angeln. Nun ist die Stadt vom Krieg gezeichnet. Erst vor kurzem haben drei Autobomben Tell Tamer erschüttert, liefen ein in den Nachrichtenstrom an Schreckensmeldungen aus dem Nahen Osten.

Als Josef Omar nach Sachsen-Anhalt kam, gab es den Krieg in Syrien noch nicht, nicht den Terror des sogenannten „Islamischen Staates“, nicht die Flüchtlingskrise, wie sie Europa heute kennt. Er hatte sich entschlossen, seinen Bruder zu begleiten, dessen Frau und den zweijährigen Neffen. Sie sind Kurden, staatenlos, ohne Pässe, ohne geltende Bürgerrechte und hofften, der Willkür von Behörden und Polizei zu entkommen, wie Josef Omar schildert. Die Eltern wollten nicht weg, blieben im Haus in Tell Tamer, wo sie zwei Geschäfte im Obsthandel führten. Später vertrieb der Krieg auch sie.

Versteckt in einem Laster fuhr Josef Omar im Bauch eines Schiffes übers Meer und weiter über Autobahnen. Eine Woche lang. Über München kamen die Brüder an einem nass-kalten Märztag nach Halberstadt. Das war vor sieben Jahren, er war mit 16 praktisch noch ein Kind. Mit dabei hatte er ein bisschen Schneidererfahrung vom Jobben beim früheren Nachbarn.

Inzwischen arbeitet Josef Omar als Friseurgeselle in einem Laden mitten im Gründerzeitviertel der Landeshauptstadt. Fürs Team gilt er als einer, mit dem man vorwärtsgehen kann, der Veränderung annimmt und ehrgeizig ist.

Bis der nächste Kunde kommt, hat Josef Omar noch Zeit und führt kurz durch den Laden. Tuben und Döschen in Pastell stehen aufgereiht in den schmalen Regalreihen an hellen Wänden. Über den Kopf einer Frau geht eine Kollegin mit dem Fön. Josef Omar trägt schwarz, wie alle in dem Friseurladen.

Der Weg in diesen Job, diesen Beruf, diesen Alltag, der war lang. Er führte durch die Ausbildung, durch Kämpfe mit Papierkram, durchwachte Nächte, Heimweh, Angst und dem Erwachsenwerden in einem Land, das er kaum kannte.

Wenige Monate nach der Ankunft in Halberstadt kam er nach Magdeburg ins Ausländerheim hinter dem Buckauer Bahnhof. In eine Bleibe mit zwei Zimmern für ihn und die Familie des Bruders. Von dem grauen, blassen Plattenbau mit den verhangenen Fenstern brach er zu Sprachkursen von Caritas und Arbeiterwohlfahrt auf. Seine Augen bekommen einen lebhaften Glanz. „Das war das Größte, drei Deutschkurse gleichzeitig.“ Zuvor hatte er eine Stunde pro Woche, es blieben Bücher und das Aufschnappen von Wörtern. Vom Fußball, wo er hinging, oder vom Neffen, wenn er vom Spielen mit anderen Kindern kam.

Heute ist er 23 und macht seine Meisterschule. Samstags sitzt er in der Klasse, gerade steht Buchhaltung auf dem Lehrplan. Wenn er den Meisterbrief hat, wolle er ein, zwei Jahre arbeiten, um zu sparen. Vielleicht reiche das schon für den eigenen Salon. „Ich möchte einen großen Laden, für Damen und Herren, Färben, Schneiden, alles.“ Sein Ziel ist das volle Programm.

Es ist einem kleinen Netzwerk an Helfern zu verdanken, dass er nach einem Jahr in Deutschland die Ausbildung bekam. Larissa Heitz-mann vom Projekt „Jobbrücke – Jobchance“ und Erika Elsholz-Sachs, Obermeisterin der Friseurinnung, halfen ihm zu verstehen, was zu tun ist, wen zu fragen und wo er welche Anträge und Dokumente einreichen muss. „Ich glaube, wir haben über drei Monate nur gekämpft“, sagt Josef Omar. Er rutschte bei der Innung schließlich in ein Ausbildungsprogramm, bei dem ein Standardgehalt von rund 160 Euro gezahlt wurde.

Damals begannen Chefs in den Betrieben, sich langsam die Augen zu reiben, weil Nachwuchs schwerer zu kriegen war. Junge Leute gingen lieber zur Uni, und der Geburtenknick schlug durch. Irgendwie war Josef Omar zur richtigen Zeit am richtigen Ort und geriet an die richtigen Leute.

Er fragte viel, suchte nach Antworten. Zwischen den Helfern und ihm standen Anrufe oder eine Fahrt zum Beratungsbüro. Bis der Vertrag stand, erzählt Josef Omar, „bin ich jeden Tag gerannt“. Sei es zum Ausländerbüro oder zum Sozialamt. Der Vertrag, sagt Obermeisterin Erika Elsholz-Sachs, der „ließ bei den Behörden den Knoten platzen“. Den Knoten aus komplizierten Voraussetzungen, weil Josef Omar noch nicht alle offiziellen Deutschlernstufen durchlaufen hatte, nur eine Aufenthaltsgestattung besaß und noch nicht anerkannt war wie jetzt. Wie es mit ihm weitergehen würde, wusste niemand, am wenigsten er selbst. Alle drei Monate bekam er einen neuen Ausweis. Als er durfte, lief er einfach weiter, los in dieses Leben.

Mit der aktuell hohen Zahl minderjähriger Flüchtlinge bekommt sein Weg Lehrbuchcharakter. In Sachsen-Anhalt sind derzeit rund 1000 Jugendliche im Alter von 15   bis 18 Jahren ohne Eltern, meist aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Bei Vorträgen zum Thema ist Josef Omar im Moment gefragt, stand fürs Bundespresseamt vor der Kamera, erzählte seine Geschichte. Um anderen Mut zu machen, sagt er. Jobchance-Mentorin Larissa Heitzmann fand es wichtig, dass er - auch später bei Problemen - nie aufgegeben hat. Sie war es, die eine Sprachschule überzeugte, ihn mit dem ersten Lehrtag kostenfrei für einen täglichen Kurs aufzunehmen. Dort war er immer vormittags vier Stunden vor der Arbeit im Laden. Drei Monate lang eine Volldröhnung Deutsch. „Das hat richtig gut geholfen“, sagt Josef Omar. So schnell wie möglich wollte er auf Deutsch mit Kunden, Kollegen und in der Schule sprechen können. Er brauchte die Wörter, um zu beschreiben, was ein herauswachsender Haaransatz, Spülung oder Locken sind.

Oft begann für Josef Omar der zweite Arbeitstag, wenn der Laden seine Türen schloss. Beim Lernen bis in die Nacht. Rot und Blau hat er jedes einzelne Wort markiert, das er nicht verstand, schlug nach, versuchte, es sich einzuprägen. Heute gesteht er, dass er ganze Sätze manchmal einfach auswendig lernte, nur um am nächsten Tag eine Arbeit in der Berufsschule zu schaffen. Verstehen kam später. Und Erfolg. So rutscht er nun in eine Vorbildrolle, die er gern annimmt. Eine mit zwei Gesichtern, da er nicht nur für junge Flüchtlinge zum Mutmacher wird, sondern auch für seine Helfer. Weil es ging, mit gemeinsamen Kräften. Mentorin Larissa Heitzmann sagt, in der Ausbildung selbst sei die Fachsprache eine Riesenhürde. Aus Bayern kam kürzlich die Meldung, vor allem deshalb hätten zwei Drittel von 171 jungen Flüchtlingen eines Ausbildungsdurchgangs aufgegeben, aber auch wegen falscher Vorstellungen vom Handwerk. Das immerhin haben sie mit vielen deutschen Jugendlichen gemein.

Seit Jahren suchen Betriebe händeringend Nachwuchs. In Sachsen-Anhalt sei aktuell höchstens „eine Handvoll“ junger Flüchtlinge unter Vertrag, sagen die Handwerkskammern. Erste Ausbildungen in nennenswertem Umfang könnten frühestens in ein paar Monaten starten, nach Ende der vorbereitenden Sprachkurse. Larissa Heitzmann zählt erste neue Schützlinge und muss zugleich Rückschläge verdauen. Zwei hätten eine begonnene Ausbildung abgebrochen, bei einer jungen Frau vermutet sie private Probleme und zu große Scheu, sich damit an sie zu wenden.

Josef Omar hätte in so einer Situation wohl angerufen. Seine Ausbildung schloss er als Jahrgangsdritter ab. Im Sommer steht seine Meisterprüfung bevor. Für alle, die nach ihm kommen, wird der Weg nicht leichter.