1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Die Wiedergeburt von Halberstadt

Deutsche Einheit Die Wiedergeburt von Halberstadt

26 Jahre Deutsche Einheit. Die Stadt Halberstadt im Vorharz ist eine Gewinnerin der Wende. 1990 auferstanden aus Ruinen.

Von Sabine Scholz 02.10.2016, 01:01

Halberstadt l Zugemauerte Straßenzüge, verrottende Fachwerkhäuser, eingestürzte Mauern. Halberstadt ist im Winter 1989/1990 ein Touristen-Magnet der morbiden Art. Aus Niedersachsen, Hessen, Bayern kommen sie, um den Verfall einer Stadt zu sehen. 27 Jahre und 250 Millionen Euro später ist Halberstadt bei Reisenden beliebt wegen der Kunst- und Kulturschätze, idyllischer Straßenzüge in der Altstadt, seiner wechselvollen 1200-jährigen Geschichte, die überall in der Stadt erkennbar ist.

Die Stadt ohne Gesicht hat sich gemausert. Der Deutschen Einheit sei Dank. „Ohne die Wirtschaftskraft des vereinigten Deutschlands wäre wohl heute tatsächlich nur die Handvoll Fachwerkhäuser in der Voigtei übrig“, sagt Sigrun Ruprecht. Sie muss es wissen, kennt sie doch die städtebaulichen Rahmenpläne für die Harzkreisstadt seit 1981.

Damals begann sie in der Halberstädter Außenstelle des Büros für Städtebau Magdeburg zu arbeiten. Immer öfter, erinnert sie sich, musste sie zu Blau und Schwarz greifen, um auf den Plänen den Zustand der Fachwerkbauten in Halberstadt zu kennzeichnen. Blau und Schwarz hießen stark gefährdet/nicht zu halten. „Dabei hätte man so manches Haus mit den Bürgern gemeinsam erhalten können. Aber das war politisch nicht gewollt. Eine bittere Erfahrung.“

Kein Material, kein Geld, kein Wille zum Erhalt und schlechte Wohnbedingungen in Häusern mit Klo auf dem Hof und ohne Bad. Da waren die Plattenbauwohnungen mit Fernwärme und Bad beliebt. „Wir hatten 4000 Wohnungssuchende damals“, erinnert sich Stephanie Rudel. Die Hochbau-Ingenieurin hat wie Stadtplanerin Sigrun Ruprecht 1981 in Halberstadt zu arbeiten begonnen, im damaligen Wohnungsbaukombinat. Und ja, sie habe auch den Verfall gesehen. „Aber die meisten von uns hatten sich damit irgendwie arrangiert“, sagt Stephanie Rudel. „Es war so alltäglich, dass es kaum noch auffiel“, ergänzt Sigrun Ruprecht.

Heute haben sie beide einen anderen Blick auf die Fachwerksubstanz Halberstadts. Sie haben viel von Stadtdenkmalpfleger Ulrich Mund gelernt. Seit Frühjahr 1990 sind beide in der Stadtverwaltung für Stadtsanierung und Stadtplanung tätig, Sigrun Ruprecht hat mit ihrer Familie 1990 selbst ein Haus in der Altstadt gekauft und saniert. Stephanie Rudel begleitet Sanierungskonzepte, half und hilft bei Anträgen auf Fördergeld.

„Bei ihr habe ich die Quittungen abgegeben, meine Stundennachweise und dann Geld bekommen“, erinnert sich Constantin Schnee. „Wir hatten doch kein Geld damals, mit Anfang 20, zwei Kindern und in Schichten arbeitend. Da war der günstige Kredit über den Sanierungsmittelfonds bei der Stadt unsere Rettung. Die Deutsche Bank hatte mich abblitzen lassen“, berichtet der bekennende Halberstadt-Liebhaber. Drei Jahre hat es gebraucht, bis er mit Frau und Kindern in die Voigtei 4 einziehen konnte. „Original ist nur noch dieser tragende Balken“, sagt er und zeigt auf einen massiven Holzbalken im Erdgeschoss seinen Hauses. Die gesamte andere Holzkonstruktion musste neu werden. Dass das Haus überhaupt noch steht, ist ihm wie vielen Sympathisanten und Akteuren der Initiative „Reko statt Abriss“ zu verdanken. Junge Leute, die 1988 anfingen, sich gegen den Flächenabriss zu wehren. „Mit dem Kaufantrag haben wir den Abriss hier in der Voigtei verhindert“, berichtet Schnee.

Sein Haus stand seit 1977 leer, ein Nachbar sicherte Türen, vernagelte Fenster, schlug Treppen heraus, damit spielende Kinder nicht bis ins Dach klettern konnten.

Die Dächer sind es, die den Anfang der Rettung von Halberstadts Altstadt markieren. „Die Niedersachsen wollten uns helfen, hatten aber kein Vertrauen in die alte Verwaltung“, erinnert sich Rainer Schöne. Er gehört zu jenen, die am 8. März 1990 das Kuratorium Stadtentwicklung gründeten, das die erste Dachziegellieferung aus Hannover entgegennahm und verteilte. Im Mai 1990 wurde Schöne Baudezernent der Stadt. Im April 1990 war Halberstadt in das Modellstadtprogramm des Bundes aufgenommen worden, am 13. September 1990 beschloss der Satdtrat vorbereitende Untersuchungen im Altstadtgebiet – der Beginn einer behutsamen Stadtsanierung. „Niedersachsenhilfe und Modellstadtprogramm haben Halberstadt gerettet“, sagt Rainer Schöne heute.

„Gemeinsam mit den Bürgern haben wir viel erreicht“, ergänzt Sigrun Ruprecht. Der „Halberstadt-Virus“ infizierte damals viele Menschen, die von außerhalb kamen und das Potenzial dieser geschundenen Stadt erkannten. Auch wenn die Wunden der Zentrumszerstörung 1945 noch sichtbar waren – ebenso wie die des 1987 begonnenen Flächenabrisses der Altstadt.

Die Halberstädter haben die Chancen der Einheit genutzt. Es gelang, die große leere Fläche im Stadtzentrum wieder zu bebauen. 133 Millionen Euro privates Kapital flossen ins Zentrum. Dazu kommen von der Europäischen Union, Bund und Land 68 Millionen Euro für die Stadtsanierung, 17 Millionen Euro wendet die Stadt als Eigenmittel für Sanierungsvorhaben auf.

Wer mag, entdeckt sogar die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl 1990 vor der Wiedervereinigung versprochen hatte. Mitten in der Altstadt haben Anwohner auf Brachflächen Gärten geschaffen. Eine Folge der Internationalen Bauausstellung 2010, an der sich Halberstadt beteiligte. Mit dem seltsam anmutenden Motto „Kultivierung der Leere“. Denn auch wenn mehr als 600 Häuser saniert und neugebaut wurden, gibt es sie, die leeren Grundstücke, die unansehnlich gewordenen Straßenzüge.

„Stadtsanierung hört nie auf, das ist ein stetiger Prozess“, sagt Stephanie Rudel. Gemeinsam mit engagierten Einwohnern lassen sich auch ohne viel Geld neue Ideen entwickeln und umsetzen. Das zeigen die Bürgergärten. „Und“, fügt Sigrun Ruprecht an, „inzwischen löst man sich von der Vorgabe, innerstädtisch immer alles ganz dicht zu bebauen. Das Klima ändert sich, da erlangen kühlende, grüne Oasen Bedeutung. Mehr Lebensqualität bieten liebevoll gestaltete Freiflächen außerdem.“ Was nicht heißt, jede Brache soll dauerhaft Wiese bleiben. An manchen Stellen muss neu gebaut werden. So wie im Stadtzentrum, wo an der Kühlinger Straße derzeit neue Gebäude entstehen.