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Gebärden Politik ohne Worte

Dolmetscherinnen übersetzen die Reden in Sachsen-Anhalts Landtag für Gehörlose. Zum Team gehört auch Sandra Köchy.

21.02.2017, 23:01

Magdeburg l Der Anzugträger zwei Tische weiter schielt irritiert herüber. Nur, weil Sandra Köchy mit ihren Händen am Kopf Hasenohren zeigt. Was der wohl hat? Das hier ist schließlich eine Landtagskantine. Da wird man ja wohl noch ungeniert über Politik sprechen können. In diesem Falle über den Ministerpräsidenten. Denn angelehnt an dessen Namen, erklärt sie beim Kaffeeplausch über ihren Job, ist der Hase die Gebärde für ihn.

Wenn Köchy Roger Rabbit spielt, bekommen die Anzugträger sie normalerweise nicht zu Gesicht. Denn statt in der Kantine sitzt sie dann im Keller – in einem kleinen Raum zwischen Archiv und Putzmittellager. Von dort aus übersetzt sie vor der Kamera Landtagssitzungen simultan für Gehörlose. Insgesamt acht Frauen gehören zum Team. Das Angebot gibt es jetzt seit gut einem Jahr.

„Die Lage ist toll, dort hat man viel Ruhe“, erklärt die Dolmetscherin den Standortvorteil Souterrain mit einem beeindruckend offenen Lächeln. Dass dieses Lächeln nur ein Bruchteil dessen ist, was Köchy mit ihren Gesichtsmuskeln anstellen kann, sieht, wer auf der Internetseite des Landtags bei den Sitzungs-Filmchen mal auf „Gebärdenvideo“ klickt. Da feiert sie Gesichtsfasching: Die Lippen tanzen wie Funkenmariechen, ihre Zunge gibt die beschworene Schlange, und manchmal wackelt die Nase wie beim Hasen.

Denn ohne mutige Mimik ist Gebärdensprache nur halb so viel wert. Sie macht Gesten verständlicher und übersetzt Gefühle. „Ein bisschen extrovertiert muss man in unserem Job schon sein“, gibt die 39-Jährige zu. Auf die Idee zum ausgefallenen Beruf kam sie in einem Praktikum beim Stadtverband der Hörgeschädigten Halle. Nach ihrem Studium begleitete Köchy dann jahrelang für ein Dolmetscherbüro Gehörlose zum Arzt, zu Betriebsversammlungen und zu Uni-Vorlesungen. Heute ist sie Dozentin an der Hochschule Magdeburg-Stendal, ihrer Alma Mater. Die Landtagssitzungen sind für die Magdeburgerin eine Art bezahltes Hobby.

An jedem der zwei bis drei Sitzungstage im Monat kommen vier Dolmetscherinnen zum Einsatz. Übersetzt wird in Zweierteams. Eine sitzt vor einer hellblauen Wand, erhellt von Scheinwerfern, und blickt in die Kamera. Über Lautsprecher hört sie, was am Rednerpult gesagt wird. Aus den Augenwinkeln sieht sie zwei Monitore: Nummer eins bildet in einer Ecke das Rednerpult ab und auf der restlichen Fläche Dokumente zur aktuellen Rede wie den Namen und die Kurzbeschreibung des Themas. Nummer zwei zeigt die Bilder von weiteren Kameras im Saal – um die Stimmung zu erfassen.

Neben Kameras und Monitoren sitzt eine zweite Gebärdensprachdolmetscherin: die Souffleuse in schweigender Ausfertigung. Nach jeder Rede wechseln die beiden. Einen Teamwechsel gibt‘s nach jedem Thema.

Wer glaubt, für diesen Job reicht es aus, sich einfach vor die Kamera zu hocken und zu gucken, was passiert, der liegt mächtig daneben. „Ohne Vorbereitung steht man auf dem Schlauch“, erzählt Köchy. Für zwei Tage Sitzung braucht sie einen Tag Vorbereitung. Schließlich werden in den Debatten komplizierte Themen mit noch komplizierteren Fachbegriffen ausgewalzt.

Und so geht die Dolmetscherin Beschlussvorlage für Beschlussvorlage durch, auch die Reden der Minister bekommt sie meist vorab. Hat sie zu einem Thema mal nur den Titel, recherchiert sie im Internet selbst und stellt sich Listen mit Fachbegriffen zusammen.

Nun könnte man denken, die größte Herausforderung in so einer Sitzung seien Behördenmonströsitäten wie „Finanzausgleichsgesetz“. Doch die gebärdet Köchy mit links – also nur im übertragenen Sinne, versteht sich: Einfach die Gesten für Geld, Ausgleich und Gesetz aneinanderreihen. Fertig. „Schwierig wird es eher, wenn Fremdsprachen ins Spiel kommen.“

Ex-Landwirtschaftsminister Hermann Onko Aeikens zum Beispiel brachte Köchy mal ins Straucheln, als er unerwartet über Neophyten referierte. Zumindest wird sie jetzt nie wieder vergessen, dass jenes griechische Wortgefüge Pflanzen meint, die sich in fremden Gebieten ansiedeln. Von solchen Spezialfakten hat sie in ihrem Gedächtnis mit der Zeit einen ganzen Batzen angesammelt. Ein Top-Joker bei „Wer wird Millionär?“.

Fällt dem Dolmetscher zu einem Begriff gar keine Gebärde ein, bleibt ihm immer das Buchstabieren. Damit müssen sich die Damen im Landtag auch bei den meisten Abgeordneten und Ministern behelfen. Denn Namen, zu denen sich eine Gebärde aufdrängt, gibt‘s dort leider nur wenige. Es kann eben nicht jeder Haseloff heißen. Oder Bull-Bischoff – die Linken-Chefin lässt sich hervorragend darstellen mit Hörnern und ner Bischofsmütze.

Manchmal wird aufs Offensichtliche auch verzichtet – aus Nettigkeit. Sozialministerin Petra Grimm-Benne etwa bliebe bei Gehörlosen wohl wenig sympathisch im Gedächtnis, würde man sie stets mit einem grimmigen Gesicht einführen.

In der Bundes- und Weltpolitik nimmt man‘s mit politisch korrekten Gebärden nicht so genau. Dort stehen oft optische Merkmale im Vordergrund – und zwar nicht unbedingt die vorteilhaften: Für Angela Merkel zeigt man heruntergezogene Mundwinkel, für Barack Obama Segelohren. Andere Gebärden beziehen sich auf Charaktermerkmale: Für Altkanzler Gerhard Schröder zum Beispiel hat sich das Zeichen für „der Schwankende“ durchgesetzt.

Dass man im Landtag Sachsen-Anhalt noch keine Politiker nach Merkmalen beschreibt, hat einen einfachen Grund, erklärt Köchy: „Wir wollen den Gehörlosen die Entscheidungen nicht wegnehmen.“ Um sie einzubeziehen, haben Studenten neulich für ihre Abschlussarbeit eine Gruppe Gehörloser befragt. Ergebnis: Sie hätten für die Spitzenpolitiker am liebsten Gebärden, die auf die Optik abzielen. Doch welches Zeichen passt zu wem? Um das herauszufinden, wird die Dozentin wahrscheinlich bald weitere Studenten in die Spur schicken. Sie sollen mit Hilfe von Fotos Vorschläge sammeln.

Apropos Studium: Männer sind dort Mangelware – genau wie in dem Beruf insgesamt. Unter den 21 Gebärdensprachdolmetschern in Sachsen-Anhalt findet man gerade mal zwei Herren. „Vielleicht liegt‘s daran, dass es ein sozialer Beruf ist“, sagt Köchy.

Bei manchen Männern, verrät sie, setzt der Anblick von gebärdenden Frauen übrigens etwas ganz anderes in Gang als Berufsinspiration: Kopfkino. „Was wir mit Mund und Zunge machen, wirkt ab und zu offenbar einladend für schlüpfrige Bemerkungen“, sagt sie schmunzelnd. Doch wer so entspannt in der Kantine Tiere imitiert, der steht auch über Männerzoten.