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Abwasser Urteil erschüttert Hausbesitzer

Auf Tausende Hauseigentümer in Sachsen-Anhalt kann eine neue Rechnungswelle zurollen. Schuld ist ein aktuelles Gerichtsurteil.

Von Jens Schmidt 27.11.2019, 00:01

Magdeburg l In Biederitz (Jerichower Land) staunten Hausbesitzer nicht schlecht, als 2014 Rechnungen ins Haus flatterten. Sie sollten für den Anschluss ans Kanalnetz zahlen - der aber schon gut 20 Jahre zurücklag. Zwischen 1000 und 2500 Euro waren im Schnitt fällig. Insgesamt ging es um 330.000 Euro, die der Abwasserverband WWAZ mit Sitz in Wolmirstedt haben wollte.

Die Häuslebauer hatten in den 90er Jahren voll erschlossene Grundstücke gekauft. Mit einem Teil des Kaufpreises wurden auch Abwasser-Kanäle finanziert. Die Erschließungsfirma hatte das Kanalnetz des Eigenheimgebiets dann an die Gemeinde übergeben - kostenlos. Die Gemeinde zeigte sich kulant und erhob von den Eigentümern keine weiteren Kanal- und Klärwerksbaubeiträge. So lief das in vielen Kommunen des Landes.

2012 übernahm der Verband WWAZ die Abwassergeschäfte von Biederitz. Er ließ sich eine Liste von jenen geben, die noch keine Beiträge gezahlt hatten. 2014 gingen die Rechnungen raus. Einige klagten. Und bekamen vor dem Verwaltungsgericht Magdeburg 2017 recht. Die Richter urteilten: Die Sache war längst verjährt.

Die Gemeinde Biederitz hätte bis 2008 Zeit gehabt, zu kassieren. Die Verjährung gilt nun auch für den neuen Verband. Also: Die Eigentümer müssen nichts zahlen. Der Verband WWAZ ging in Berufung. 2019 kam das Oberverwaltungsgericht nun zu einem ganz anderen Schluss: Die Biederitzer seien jetzt Teil des neuen, vereinten WWAZ-Kanalnetzes. Dass die Biederitzer Abwässer tatsächlich wie eh und je ins Klärwerk nach Gerwisch und nicht nach Wolmirstedt gepumpt werden, zählt juristisch nicht. Ein neuer Verband darf Beitragsbescheide verschicken. Dass der Beitragsanspruch eigentlich verjährt war, sei "keine schutzwürdige Rechtsposition", heißt es in der Urteilsbegründung. Heißt: Die Biederitzer müssen zahlen.

Der Biederitzer Fall scheint bislang ein Einzelfall zu sein. Dennoch schlägt das Urteil Wellen. Die Verjährungsregeln, erst 2016 zu Gunsten der Hauseigentümer verbessert, werden mit dem Urteil wieder ausgehebelt. Übernimmt ein Verband einen anderen, darf er laut Urteil für 20 oder 25 Jahre zurückliegende Anschlüsse kassieren oder neue, höhere Beiträge erheben. "Das ist starker Tobak", schimpft Holger Neumann, Landechef vom Eigentümerverband Haus & Grund. Fast jedes Jahr übernehmen große Abwasserverbände kleine. Wenn die neuen Verbandschefs dann die Karteien durchforsten, könnten Tausende neue Bescheide verschickt werden. "Wir müssen schauen, ob sich aus dem Urteil für uns neue Pflichten ergeben", sagte Vize-Geschäftsführerin Cornelia Miethig vom Abwasserverband Köthen. Der hatte 2017 die Geschäfte des Verbandes Ziethetal übernommen.

Politiker zeigen sich von dem Urteil überrascht. "An solch eine Auslegung des Abgabenrechts hätte ich nicht in den kühnsten Träumen gedacht", sagt SPD-Innenpolitiker Rüdiger Erben. "Wir wollten endlich Rechtsfrieden", sagt er. "Wenn der gefährdet ist, müssen wir das Gesetz erneut ändern."

Der Verband Haus & Grund unterstützt eine Biederitzer Klägerin. Das Oberverwaltungsgerichts-Urteil nehmen sie nicht hin. "Notfalls gehen wir bis zum Bundesverfassungsgericht", sagt Neumann. Karlsruhe hatte 2013 die Rechte von Hauseigentümern gestärkt und das unbegrenzte Kassieren als verfassungswidrig gebrandmarkt.