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Bahnhofsmission Der Anker am Gleis 6

Sie schmieren Brötchen für Hartz-IV-Empfänger, vermitteln Obdachlosen einen Schlafplatz. Und das seit 25 Jahren.

Von Elisa Sowieja 26.01.2017, 00:01

Magdeburg l Der Zeitzeuge ist pünktlich wie die Bahnhofsuhr. Draußen, am Gleis sechs, hat der kleine Zeiger eben erst die Acht erklommen, da wartet Mario Linke schon mit abgezählten Münzen im Flur. Seine 60 Cent tauscht er gegen einen Teller mit Brötchenhälften, einen Pott Kaffee und eine Bäckertüte zum Mitnehmen, die er in seinen dunkelweißen Lotto-Beutel stopft. Dann setzt er sich an einen der Tische im Aufenthaltsraum.

Linke, ein freundlicher, uneitler Kerl mit Schnauzer und rundem Gesicht, frühstückt jede Woche mindestens einmal in der Bahnhofsmission. Immer dann, wenn er zum Jobcenter muss, sagt der Hartz-IV-Empfänger, „sich rumärjern“. Oder zur Bank. Naja, eigentlich auch immer, wenn er nicht allein zu Haus hocken will. Sein erster Besuch ist schon lange her: Es war 1992, im Gründungsjahr. Seit dieser Zeit hilft die ökumenische Einrichtung nicht nur Reisenden auf Bahnsteigen – wie Rollstuhlfahrern und Analphabeten –, sondern bietet auch einen Zufluchtsort mit Essensausgabe. „Jeändert? Nee, jeändert hat sich hier nix“, sagt Linke und schüttelt gemütlich den Kopf. Dann fällt ihm aber doch noch was ein: „Bloß die Leute.“

Der Magdeburger meint damit vor allem diejenigen, die ihm damals von der Einrichtung erzählt haben: Kumpels von der Straße, denn er lebte zu dieser Zeit selbst „auf der Platte“. Viele von ihnen sind heute nicht mehr, erzählt der 51-Jährige, zu viel getrunken. Aber auch jenseits des Bekanntenkreises dieses Zeitzeugen hat sich die Besucherschaft im Aufenthaltsraum gewandelt.

„Rund ein Viertel der Menschen, die zu uns kommen, bilden seit einigen Jahren europäische Ausländer“, berichtet Gabriele Bolzek, stellvertretende Leiterin der Einrichtung. Es sind vor allem solche aus Oststaaten wie Ungarn und der Slowakei, die das Schengen-Abkommen nutzen, um nach Deutschland zu reisen und dort Arbeit zu suchen. Oft fänden sie keinen Job – zumindest keinen legalen – und so auch keine Wohnung.

Sie stellen die Mitarbeiter vor eine Herausforderung, die es vor 25 Jahren quasi nicht gab: Verständigungsprobleme. „Englisch wird immer wichtiger. Aber selbst damit kommt man oft nicht weiter“, sagt Bolzek. Meist klappt‘s dann irgendwie mit Händen und Füßen: Wer an seiner Hose zup­pelt, der wird wohl eine neue brauchen. „Schwierig ist es nur, wenn ich erklären muss, dass ich etwas nicht habe.“

In den ersten Jahren der Magdeburger Bahnhofsmission fiel eine ganz andere Gruppe Hilfsbedürftiger ins Gewicht: Menschen, die durch die Wende ihren Job verloren hatten. Adelheid Bornholdt erinnert sich an sie noch sehr gut. Sie hat die Einrichtung mit gegründet und sie bis vor kurzem geleitet. „Viele haben es nicht verkraftet, dass die Großbetriebe, in denen sie so lange arbeiteten, plötzlich geschlossen wurden. Je länger die Arbeitslosenphase dauerte, desto schlimmer wurde es oft.“ Menschen landeten auf der Straße, Alkoholsucht und Suizidgefahr wurden oft zu einem Teil ihres Lebens. Die Arbeitslosen suchten nicht nur einen warmen Raum und einen vollen Teller, sondern oft auch das Gespräch.

Die Beratung in der Bahnhofsmission steckte damals allerdings noch in den Kinderschuhen. Heute ist sie ein fester Bestandteil des Angebots. Die Mitarbeiter vermitteln zum Beispiel Schlafplätze, empfehlen Suchtberatungsstellen oder unterstützen beim Ausfüllen von Formularen fürs Jobcenter. Manchmal hören sie auch einfach nur zu.

Der Bedarf wird immer größer: Die Zahl der Gespräche hat sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Wurden im Januar 2006 rund 450 Beratungen registriert, waren es zehn Jahre später 1300.

Genutzt wird das Angebot zum Beispiel von Obdachlosen. Denn im Gegensatz zu Mario Linke, der sich, wie er erzählt, nach anderthalb Jahren inklusive sehr kaltem Winter eine Wohnung suchte, bekommen viele dauerhaft ihr Leben nicht geregelt. Das Gesprächsangebot nutzen aber genauso auch frisch Verwitwete oder Menschen mit psychischen Problemen.

Letztere liefern ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Besucherschaft in der Bahnhofsmission gewandelt hat. Laut Statistik kommen immer mehr Leute, die etwa depressiv, überlastet oder orientierungslos sind. Zuletzt war es jeder Dritte. „Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen mit dem Druck in unserer Gesellschaft immer schlechter zurechtkommen“, vermutet Gabriele Bolzek.

Es ist aber nicht nur die Besucherschaft, die sich seit der Gründung der Bahnhofsmission verändert hat. Es ist auch die Personalstärke. Bei der Zahl an Haupt- und Ehrenamtlern – derzeit gibt es fünf von der einen und zehn von der anderen Sorte – hat sich zwar wenig bewegt, berichtet die Leitung. Doch bis vor ein paar Jahren kamen noch mehrere Ein-Euro-Jobber hinzu. Da solche Stellen weniger geworden sind, wurden sie der Einrichtung erst seltener und zuletzt gar nicht mehr zugeteilt. „Diese Helfer fehlen“, sagt Bolzek. So sehr, dass 2013 die Öffnungszeiten auf ein Drittel der Stunden zurückgefahren werden mussten. Heute ist die Bahnhofsmission nur noch werktags von 8 bis 14 Uhr besetzt. In den 90ern – damals hatte man Zivis und Leute aus der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ABM – war eine Zeit lang sogar nachts geöffnet.

Und so kommt es, dass auch die Besucherzahl zurückgegangen ist. Wurden im Januar 2006 noch 1300 Leute gezählt, die sich in der Bahnhofsmission aufhielten, waren es zehn Jahre später nur gut 500.

Es hat sich aber auch etwas verbessert: die Möglichkeiten, zu helfen. „Heute gibt es viel mehr Beratungsstellen, zu denen wir die Menschen schicken können“, erklärt Bolzek. „Und wir kennen uns in den Angeboten auch immer besser aus.“

Mario Linke gehört zu der Sorte Besucher, die gar nicht viel Tamtam brauchen. Ein 30-Cent-Kaffee und zwei Brötchenhälften, gereicht bei einer netten Plauderei über Pizza­brötchen zum Mitnehmen, dazu ein freier Platz im Aufenthaltsraum – das reicht für ihn aus, um diese Räume „ ein zweites Zuhause“ zu nennen.