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Behinderung Arbeiten unter der Schutzglocke

Rund 11.000 Sachsen-Anhalter arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Dort übernehmen sie wichtige Aufgaben.

Von Elisa Sowieja 17.03.2017, 00:01

Magdeburg l Melanie hat nicht viele Worte. Braucht sie aber auch nicht. Daumen nach oben und einmal breit grinsen – damit ist die Frage, wie‘s ihr hier gefällt, im Prinzip ja beantwortet. Außerdem hat sie noch zu tun. Sie knipst. Auf dem Metalltisch vor ihr liegt eine Kabeltrommel so groß wie ein Autoreifen. Von der rollt sie Zentimeter für Zentimeter einen Schutzschlauch für Kabel ab. Mit ihrer Zange in Quietsch-Orange unterteilt sie ihn in gleich lange Stücke. Die Kabel werden später mal in einem Windrad verbaut.

Melanie hat das Down-Syndrom, einen Gendefekt, der zu Einschränkungen in Motorik und geistigen Fähigkeiten führt. Die 30-Jährige wirkt wie ein großes, freundliches Mädchen und kann nur sehr undeutlich sprechen. Sie gehört zu den rund 550 Mitarbeitern der Behindertenwerkstatt der Lebenshilfe in Magdeburg. Sachsen-Anhalt-weit ist der Verein mit 14 der 33 Werkstätten der bedeutendste Träger.

Die Zahl der Menschen, die in den Werkstätten im Land arbeiten, steigt von Jahr zu Jahr leicht an. Ein Grund ist die zunehmende Lebenserwartung. „Wir haben jetzt erstmals Beschäftigte, die alt werden“, berichtet Werkstattleiterin Heike Woost und erklärt das unter anderem mit dem medizinischen Fortschritt. „Jemand mit Down-Syndrom hatte in den 80er Jahren eine Lebenserwartung von maximal 30 Jahren.“ Mittlerweile sind es 60.

Bei der Lebenshilfe Magdeburg arbeiten die meist geistig behinderten Menschen an vier Standorten in Bereichen wie Elektromontage, Holzverarbeitung, Landschaftspflege, Textilreinigung und Catering. Die Aufgaben reichen von sehr simpel – Glasfaserplatten mit doppelseitigem Klebeband versehen oder Lesezeichen in Bücher einlegen – bis hin zu komplex, wie einen Stecker an eine Leitung mit 42 Adern basteln. Wobei jede Ader ins richtige Loch muss, versteht sich. Die meisten dieser vielen kleinen Aufgaben haben eines gemeinsam, erklärt Woost: „Firmen haben sie ausgegliedert. Denn die Arbeiten selbst zu übernehmen, wäre für sie unwirtschaftlich.“ 42 Adern in einen Stecker zu friemeln, so etwas kostet schließlich Zeit. Und davon haben die Mitarbeiter in einer Behindertenwerkstatt genügend. „Wir arbeiten nicht im Akkord. Die Fachkräfte müssen beim Planen Zeitpuffer einrechnen und sämtlichen Stress abfangen.“ Diese Gruppenleiter sind in der Regel Handwerker mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung. Jeder von ihnen betreut zwölf Mitarbeiter.

Dass besagte Aufgaben für eine Firma unprofitabel sind, für eine Behindertenwerkstatt aber nicht, hat einen simplen Grund: Die Werkstattmitarbeiter erhalten keinen Mindestlohn. Im Bundesschnitt verdienen sie 184 Euro im Monat, das sind rund 9 Euro pro Arbeitstag. Die Lebenshilfe Magdeburg zahlt nach eigenen Angaben im Schnitt 240 Euro. Ihr Leben finanzieren die Menschen mit Grundsicherung.

Hintergrund ist, dass es sich rechtlich nicht um Arbeitnehmer, sondern um „arbeitnehmerähnliche Beschäftigte“ handelt. Kritiker bemängeln die niedrige Bezahlung als diskriminierend und unvereinbar mit dem Inklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention.

Die Werkstätten halten dagegen, dass bei ihnen kein Leistungsdruck ausgeübt werde und es daher nicht möglich sei, den Mindestlohn zu zahlen. Denn auch wenn sie Gewinne erwirtschaften müssen, besteht im Gegensatz zu normalen Firmen darin nicht der Hauptzweck. Im Vordergrund stehen Rehabilitation und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Menschen sollen hier, geschützt vor Kündigung, ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und auf einen Job in normalen Unternehmen vorbereitet werden – auch wenn in der Praxis die wenigsten den Sprung dorthin schaffen. Wegen der besonderen Ziele wird ein Teil der Bezahlung vom Land übernommen.

Auch die Berufsausbildung ist eine andere. Theorie wird immer nur für eine Stunde eingestreut. Und dann geht es oft ums praktische Leben: Wie lese ich die Uhr? Welche Jahreszeiten gibt es? Worauf muss ich beim Bezahlen im Supermarkt achten?

Wie Mitarbeiter ihre Fähigkeiten weiterentwickeln können, sieht man an Christian. 34 Jahre alt, jemand, dem man seine Behinderung nicht ansieht und im Gespräch auch nicht sofort anmerkt. Als er nach der Sonderschule anfing hier zu arbeiten, bohrte er Löcher in Metallschienen. Heute steht er an einer 60 000 Euro teuren CNC-Maschine.

Programmiert wird sie zwar vom Gruppenleiter. Doch Christian spannt die Metallklötze ein, holt sie später wieder heraus, poliert die in der Maschine gebohrten Löcher. Und, für ihn am wichtigsten: Er darf auf den „Start“-Knopf drücken. „Dann stehst du da und guckst zu, wie alles fertig wird. Das ist schon schön“, erzählt er, die Hände in die Hüften gestemmt.

Christian gehört zu den „Jungen Wilden“ – einer Gruppe von Leuten mit leichter geistiger Behinderung, die Woost zufolge wächst. Sie haben ein gestörtes Sozialverhalten; ihnen fällt es schwer, Regeln zu befolgen und sich zu konzentrieren. „Solche Menschen fallen durch sämtliche Bildungsmaßnahmen“, sagt Woost. „Hier finden sie eine sinnvolle Arbeit. Das macht sie stolz und gibt ihnen Selbstbewusstsein.“

An Regeln halten muss sich Christian trotzdem. Es gibt festgelegte Arbeitszeiten und Pausen. Pünktlich um 7.30 Uhr geht‘s morgens los. Sieben Dienststunden hat der Tag, netto sind‘s vier bis fünf, auf die restlichen Stunden fallen zum Beispiel Trainingszeiten für Fußball oder Tischtennis.

Auch für die Qualitätssicherung gibt es Regeln: Die Werkstatt hat eine extra Abteilung, in der jeder Arbeitsschritt noch mal überprüft wird. Dennoch hätten Firmen oft Vorurteile, berichtet Woost. Sie fürchten, dass die Arbeit nicht pünktlich fertig oder sauber erledigt wird. Leere Auftragsbücher, sagt sie, habe es aber bisher nicht gegeben. Um Vorurteile abzubauen, lade man oft Betriebe zum Rundgang ein. So hat die Lebenshilfe einen großen Windkrafthersteller am Haken und schon Fußböden für ein Aida-Schiff gefertigt. Auch Autozulieferer, ein Betten-Großhandel und der Landtag sind Kunden, Letztere bei der Wäscherei.

Darauf ausruhen kann sich die Werkstatt nicht, sagt Woost. „Vor kurzem haben wir unsere Lager vergrößert, damit wir auf Vorrat für spontane Bestellungen produzieren können. Die haben wir immer häufiger. Und wir mussten teure Maschinen anschaffen, um Auftraggeber nicht zu verlieren.“ Darunter war übrigens auch die, an der Christian so gern „Start“ drückt.