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Biker-Saison Motorrad-Unfälle: Sonne, Frühling, Tod

Für die Motorradfahrer startet die Saison. Damit aber auch die der Unfälle. Allein 2018 verunglückten 21 Biker in Sachsen-Anhalt tödlich.

Von Matthias Fricke 06.04.2019, 01:01

Halberstadt l Für Dirk Weißke ist der 28. April 2018 ein Schicksalstag – eine harte Vollbremsung vom vielbeschäftigten selbstständigen Fliesenleger und begeisterten Motorradfahrer in den Rollstuhl. Der Tag beginnt für ihn nach dem Frühstück mit einem Biker-Gottesdienst in Bernburg. Mehrere Dutzend Motorradfahrer sind dabei. Später erinnert sich seine Frau: „Wir waren froh, dass er da mitgefahren ist. Schließlich sollte die Feier am Abend zum Reinfeiern in seinen 50. Geburtstag heimlich vorbereitet werden.“ Doch alles kommt anders.

Der Bernburger rollt in der Kolonne mit seinen Motorradfreunden in Richtung Harz zur Rappbodetalsperre. Dort war er schon unzählige Male als Mitglied des „Ostharz-geschwaders“. So nennt sich seine Gruppe. „Wir haben nichts mit schnellem Fahren am Hut“, sagt er. Es geht darum gemeinsam auszufahren, den Kopf frei zu bekommen und die Landschaft zu genießen. Deshalb kaufte er sich vor etwa zehn Jahren auch eine Touren-AWO, Baujahr 1956. Weil der passionierte Biker die Maschine aber schonen will, holte er sich vor fünf Jahren eine „Ducati M5 Monster 696“ als Zweitmaschine für seine Ausfahrten.

Es ist am frühen Nachmittag, als Dirk Weißke mit seinem Freund die Kolonne verlässt und nach Hause aufbrechen will. Er sagt über diese Minuten: „Ab da fehlt mir der Film. Ich will es ja selbst auch verstehen. Aber ich kann mich nicht erinnern.“

Die beiden Motorradfahrer nehmen die Kreisstraße 1348 in Richtung Timmenrode. Näheren Aufschluss gibt später das Unfallprotokoll der Polizei: Etwa 300 Meter hinter dem Ortsausgang Wienrode gerät die Ducati des Bernburgers aus ungeklärter Ursache in einer Rechtskurve auf der schmalen Fahrbahn in den Gegenverkehr und kracht frontal gegen einen entgegenkommenden Pkw. Die 24-jährige Fahrerin aus Gommern kann nur mit einer Vollbremsung reagieren, den Zusammenstoß aber nicht verhindern. Weißke stürzt mit voller Wucht gegen die Frontscheibe und kommt hinter dem Auto zum Liegen.

Als Kirsten Weißke den Anruf des Begleiters ihres Mannes erhält, ahnt die Krankenschwester einer Intensivstation, dass etwas Schlimmes passiert ist. Aber noch nicht wie schlimm: Der Bernburger wird zunächst in die Notaufnahme nach Quedlinburg gebracht. „Ich stand völlig neben mir“ erinnert sich die 49-Jährige.

Dann folgt die Nachricht: Er muss mit dem Rettungsflieger in die Spezialklinik Bergmannstrost in Halle gebracht werden. Die Familie befindet sich im Ausnahmezustand – Tochter, Sohn und Ehefrau stützen sich gegenseitig. Sie informieren die mehr als 50 geladenen Gäste, dass es die Party nicht geben wird. Das Geburtstagskind liegt mit schwersten Verletzungen im künstlichen Koma.

Eine Woche später erwacht er erstmals daraus. Ende September darf der Bernburger die Klinik verlassen, danach geht es zur Reha. Erst zum 26. November ist er, wenn auch im Rollstuhl, wieder zu Hause. Pünktlich zur Hochzeit seines Sohnes. Seinen Lebensmut hat der Fliesenleger dennoch nicht verloren: „Das Leben ist jetzt einfach ein ganz anderes.“ Er bleibt von der Hüfte an gelähmt und für immer auch auf fremde Hilfe angewiesen.

Dennoch hatte er Glück im Unglück. Im Jahr 2018 überlebten 21 Motorradfahrer im Land ihren Unfall nicht. Sechs starben allein im Bereich des Landkreises Harz. Es ist für Biker der Anziehungspunkt.

Das bestätigt auch Polizeikommissar Sebastian Fabich, Projektleiter der Aktion „Sicher durch den Harz“ im Halberstädter Revier. Sie gibt es bereits seit zehn Jahren. An ihr sind auch Niedersachsen und Thüringen beteiligt. Fabich: „Vor allem die Rappbodetalsperre ist für viele der Magnet. Zwei Drittel der an Unfällen beteiligten Biker im Harz kommen aus dem Umland, anderen Bundesländern und dem Ausland.“ Gerade auf der Anfahrt durch die Berge gibt es uneinsehbare scharfe Kurven, in denen man schnell die Kontrolle verlieren kann.

Fabich, der selbst eine Kawasaki Z 1000 fährt, kennt die Tücken und häufigsten Fehler der Biker: „Es sind meist Bremsfehler, eigenes Überschätzen und nicht ausreichend vorausschauendes Fahren. Als Motorradfahrer muss man immer auch für andere mitdenken. Die Straßen sind außerdem für schnelles Fahren viel zu voll.“ Gerade bei schönem Wetter. Die „super ausgebauten Strecken“ würden aber immer häufiger dazu verleiten, zu schnell zu fahren.“ Aus diesem Grund plant das Polizeirevier Harz in dieser Saison auch mindestens drei überregionale Großkontrollen und organisiert Präventionsveranstaltungen unter anderem beim Biker-Stammtisch.

Den Saisonstart für Motorräder bekommt auch Prof. Felix Walcher, Chef der Unfallchirurgie am Magdeburger Universitätsklinikum, deutlich zu spüren. „Gerade jetzt melden viele nach dem Winter ihre Saison-Kennzeichen an. Da liegt auf vielen Straßen manchmal noch der Splitt und der Umgang mit der Maschine muss erst wieder geübt werden. Da fehlt die Routine. Viele unterschätzen diese Gefahr“, meint der Mediziner. Häufig landen bei ihm die Patienten mit schweren Schädelhirnverletzungen und inneren Verletzungen.

„Die Extremitäten können wir meist rekonstruieren, aber bei Stamm- oder Kopfverletzungen sind die Folgen mitunter tödlich“, sagt er. Die Uniklinik Magdeburg ist mit dem Städtischen Klinikum ein überregionales Traumazentrum mit den zwei Standorten. „Das bedeutet, wir können in Magdeburg alle Verletzungen jederzeit behandeln, die es bei Motorradunfällen geben kann“, sagt er. Statistisch gesehen haben etwa ein Drittel der Patienten nach einem Zweiradunfall ein Schädelhirntrauma.

Trotz des Integralhelms und der häufig getragenen Schutzausrüstung sind Motorradfahrer im Gegensatz zum Autofahrer deutlich ungeschützter und das macht sich an den schweren Verletzungen bemerkbar. So seien gerade unter anderem schwere Beckenverletzungen und Verletzungen an der Wirbelsäule keine Seltenheit, weil auf das Becken bei den Stürzen große Kräfte wirken. Die Empfehlung des Unfallchirurgen, der selbst passionierter Radfahrer ist: Defensives und vorausschauendes Fahren.

Insgesamt verletzten sich 2018 277 Motorradfahrer schwer. Sie verunglückten laut Innenministerium Sachsen-Anhalt am häufigsten im Mai an Sonntagen in der Zeit zwischen 15 und 18 Uhr. Statistisch gesehen war der 8. April 2018 der unfallträchtigste Tag des Jahres, ein Sonntag. Zu den Unfallursachen erklärt Stefan Brodtrück vom Innenministerium: „Bei den 979 Unfällen mit Motorradbeteiligung haben 586 Motorradfahrer die Unfälle selbst verursacht.“ Das sind etwa 60 Prozent.

Nach einer Erhebung des Polizeirevieres Harz zu den beteiligten Motorradfahrern an den Unfällen 2018 sind 60 Prozent von ihnen im Alter zwischen 31 und 60 Jahren.

Vor allem die Altersgruppe ab 50 Jahre habe nach den Beobachtungen von Wolfgang Prescher die Liebe zum Motorrad entdeckt. Der Vorsitzende des Fahrlehrerverbandes in Sachsen-Anhalt erklärt: „Ihnen geht es nicht um schnelles Fahren, sondern den Spaß an der besonderen Ausfahrt. Vor allem auch Frauen wollen inzwischen den großen Motorradführerschein machen. Viele erfüllen sich damit jetzt noch einen Traum aus der Jugend.“ Sie wollen eher die Ausfahrt genießen, während es der jüngeren Generation vor allem auf dem Land nach wie vor um die eigene Mobilität geht.

Auch die Industrie habe sich inzwischen auf die Trend-Zielgruppe der älteren Generation­ eingestellt. Die schweren Maschinen haben zum Beispiel ein duales Bremssystem, das einen Abstieg über den Lenker verhindern soll. Auch ein Antiblockiersystem gehöre laut Prescher zu den neueren Modellen in den höheren Klassen. Der Preis für einen Motorradführerschein zwischen 1500 und 2500 Euro, abhängig von der Zahl der Fahrstunden, schrecke wenige ab. Geld spiele in dieser Generation eine untergeordnete Rolle.

Der nun im Rollstuhl gefesselte Dirk Weißke hat mit seiner Liebe zum Motorrad trotz des schweren Unfalls nie gebrochen: „Wenn ich könnte, würde ich jederzeit wieder auf die Maschine steigen und losfahren. Meine alte Touren-AWO werde ich deshalb auch nicht verkaufen.“ Selbst wenn sie nun weiter in der Garage stehen bleiben muss.