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Brailleschrift Pünktchen als Schlüssel zur Welt

Die Brailleschrift ermöglicht 3000 Blinden in Sachsen-Anhalt das Lesen und Schreiben. Doch neue Medien könnten sie überflüssig machen.

Von Alexander Walter 10.02.2017, 00:01

Halle l Hanna hält den Kopf gesenkt. Langsam schieben sich ihre Finger von links nach rechts: „Hausaufgabe: Wie viele Kilometer legt ein Auto in der Stunde zurück, wenn es 20 Meter pro Sekunde fährt“, liest das Mädchen vor. Der Block auf dem Tisch ist ihr Hausaufgabenheft.

Buchstaben allerdings sind nirgends zu erkennen. Erst bei genauem Hinsehen zeichnen sich winzige Erhebungen ab. Hanna ist blind, sie liest mit den Fingern in der Blindenschrift. Die Pünktchen auf dem Papier sind ihr Schlüssel zur geschriebenen Welt.

So wie Hanna geht es rund 3000 Menschen in Sachsen-Anhalt. Nur jeder fünfte ist dabei von Geburt an blind.

Dass Blinde Zugang zu Bildung haben, verdanken sie einem Mann namens Louis Braille. Nach seiner Erblindung ersann der wissbegierige Franzose vor fast 200 Jahren das nach ihm benannte ausgeklügelte Zeichensystem.

Dessen Grundform hat sich bis heute nicht verändert und ähnelt einer Sechs auf dem Würfel. Zwei Punkte in der Breite und drei in der Höhe geben das Raster für 64 Kombinationsmöglichkeiten vor.

Das reicht für alle Buchstaben, Zahlen, aber auch Sonderzeichen in Englisch, Russisch oder Mathe. „Die unterschiedliche Anordnung und Kombination sind das Geheimnis“, sagt Ute Busch, Leiterin des Landesbildungszentrums (LBZ), der Schule für blinde und sehbehinderte Kinder in Halle, an der auch Hanna die Schrift erlernt. Doch die Blindenschrift hat ihre Tücken. Gerade das Lesen erfordert viel Training und im wahrsten Sinne des Wortes Fingerspitzengefühl.

Kinder am LBZ profitieren von einer frühen Förderung. Erwachsene dagegen haben es schwerer. „Dass Späterblindete schnell ein Buch lesen können, habe ich noch nie erlebt“, sagt Ute Busch.

Damit nicht genug. Ein für Sehende geschriebenes Taschenbuch wird im Braillesystem schnell zu einem Wälzer von mehreren tausend Seiten. Blinde, die viel lesen wollen, müssen deshalb auch die Stenovariante kennen. Das Erlernen der Zeichen ist wie das Pauken von Vokabeln und erfordert eine unwahrscheinliche Gedächtnisleistung, sagt Ute Busch.

Dass auch Erwachsene die Brailleschrift erlernen können, wenn die Einstellung stimmt, zeigt das Beispiel von Jette Förster. Die Berlinerin erblindete erst im Alter von 27 Jahren. In der Beratungsstelle des Blinden- und Sehbehindertenverbandes holte sie sich die Braille-Buchstaben. In nur einer Nacht paukte sie das Alphabet. „Wenn man ein Mensch ist, der gern lernt, ist das schon eine gute Voraussetzung“, sagt Förster. Inzwischen kann sie nicht nur fließend lesen und schreiben, sie leitet auch die Stendaler Beratungsstelle des Blindenverbandes und ist im Vorstand der Bundesorganisation aktiv.

Tatsächlich lohnt die Mühe. Die Blindenschrift bietet ein breites Spektrum von klassicher bis moderner Literatur. Prüde geht es dabei nicht zu. Selbst der Playboy veröffentlichte sein Magazin von 1975 bis 1985 in der Brailleschrift. Auch in der Öffentlichkeit hat die Schrift längst Einzug gehalten. Braille-Punkte auf Telefontasten, im Fahrstuhl oder auf Geländern in Bahnhöfen sind auch Sehenden vertraut.

Längst beschränkt sich die Blindenschrift nicht mehr auf analoge Medien. Computer für Blinde haben inzwischen Braillezeilen, aus denen die Pünktchen wie winzige Bläschen hervorkommen. Am LBZ in Halle lernen die Kinder den Umgang mit ihnen schon ab der vierten Klasse.

Die größte Revolution für Blinde ist allerdings das Handy. „Es gibt Apps für Verkehr, Navigation oder Einkauf“, erzählt Ute Busch. Im Supermarkt etwa können Blinde das iPhone vor ein Produkt im Regal halten. Sekunden später erfahren sie, was genau sie in der Hand halten. Auch Hanna hat sich von den Medien anstecken lassen. „Ich höre mir lieber was an“, gesteht sie, als sie das Hausaufgabenheft zur Seite gelegt hat.

Wird die Punktschrift in Zukunft also überflüssig? Das glaube ich nicht, sagt Ute Busch und fragt entwaffnend zurück: „Würden Sie denn auf die gedruckte Schrift verzichten?“