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Bremsassistenten Lkw ungebremst ins Stauende

Autobahnbaustellen wurden 2017 in Sachsen-Anhalt 21-mal zur Todesfalle. Dabei gibt es gute Technik, um Crashs zu verhindern.

Von Jens Schmidt 28.12.2017, 00:01

Magdeburg l Wir rollen mit dem Mercedes-Laster im dichten Feierabendverkehr über den Magdeburger Ring und dann weiter auf A 14 und A 2. Hinterm Steuer sitzt Klaus Kaiser, Chef der „Magdeburger Flitzer“. Transporte und Fahrzeugverleih sind sein Metier. Vor uns schert ein Polo ein: Unser Laster bremst ab. Der Polo zieht davon, der Laster gibt wieder Gas. Bis Tempo 85. Dann ist Schluss. Vor uns ein Laster mit Anhänger, der vielleicht 70 fährt. Unser Lkw bremst etwas ab. Klaus Kaiser setzt den Blinker, zieht nach links auf die Überholspur, nun ist Platz und unser Lkw gibt Gas, fährt vorbei. Klaus Kaiser hat bei den Aktionen nicht einmal auf die Bremse getreten und nicht einmal das Gaspedal berührt. Alle Aktionen hat der Automat erledigt. Der elektronische Fahrassistent regelt fast alles: Tempo, Abstand, Bremsen. Zur Not bis zum Stillstand, wenn vorn ein Stau gewesen wäre.

Hätten alle Laster die Technik an Bord, gäbe es weniger Leid. Denn in den Autobahnbaustellen läuft fast immer dasselbe todtraurige Spiel ab: Dichter Verkehr, Stau, Laster fährt ungebremst ins Stauende. Tote, Schwerverletzte.

Die großen Hersteller wie Mercedes, MAN und Volvo rüsten schon seit einigen Jahren ihre Lkw mit dem Assistenten aus. Doch nicht selten schalten die Fahrer das Gerät ab. Sie wollen möglichst nah an den Vordermann fahren, um aus dem Windschatten heraus zu überholen. Dabei stört der Assistent, der den Laster immer auf einem gewissen Abstand hält. Kaiser schüttelt nur den Kopf. „Wer so nah auffährt, hat bei einem plötzlichen Stau null Chance.“

Manche Lasterfahrer klagen über plötzliche und grundlose Vollbremsungen. Doch da ist vielleicht mal ein Blatt oder Schmutz auf dem Sensor. Saubermachen hilft, sagt Kaiser. Sei Fazit: „Es gibt überhaupt keinen Grund, den Assistenten auszuschalten.“ Sein Ton kingt bestimmt. Unverständnis und Grimm schwingen mit über den Leichtsinn mancher Kollegen. Kaiser hat vier große Laster auf den Pisten. Kassel, Bodensee, Luxemburg heißen derzeit die Ziele. Seit 15 Jahren haben sie Notbremsassistenten an Bord. Die Elektronik kostet zwar etwa 3500 Euro mehr – bei einem Anschaffunsgpreis von 100.000 Euro pro Laster relativiert sich das aber.

Die Elektronik arbeitet zuverlässig, sagt Kaiser. Selbst bei Nebel. Anfangs konnten die Assistenen stehende Hindernisse wie bei einem Stau noch nicht erkennen; aber seit zwei, drei Jahren funktioniert sogar das. Einzelmeinung? Wohl kaum. Der ADAC hat Laster von Mercedes, Volvo und MAN getestet. Fazit: Die Bremshelfer arbeiten einwandfrei. Sie reduzieren nicht nur das Tempo, sie können auch eine Vollbremsung hinlegen.

Außerdem warnen die Assistenten den Fahrer mit Brummtönen und Licht, wenn sie unkonzentriert zu nah auffahren oder übermüdet aus der Spur geraten. Etliche Fahrer schalten die Helfer jedoch ab, weil sie angeblich nerven. Für die ADAC-Tester nicht nachvollziehbar. Denn: „Die Warnungen sind zu jedem Zeitpunkt plausibel.“ Auch die Notbremse erhält beste Testnoten: „Aktuelle Lkw verwenden intelligente Sensorik und Logarithmen“, schreiben die Tester. Sie fuhren mit Tempo 80 auf ein feststehendes Hindernis: Doch die Elektronik bremste den schweren Brummer akkurat und kollisionsfrei bis zum Stillstand ab. „Die Bremswirkung ist der eines Pkw ebenbürtig.“

Die Technik ist super. Doch die Gesetze sind zu lasch. Zwar sind für größere Laster seit 2015 Notbremser vorgeschrieben. Aber eine Vollbremsung wird nicht verlangt. Lediglich eine Temporeduzierung um 10 km/h – und ab dem 1. Januar um 20 km/h. Das hieße: Ein 40-Tonner würde immer noch mit Tempo 60 auf einen im Stau stehenden Pkw knallen. „Das ist unbefriedigend“ sagt Mattias Schollmeyer, Geschäftsführer vom Verkehrsgewerbe-Verband Sachsen-Anhalt. Er wünscht sich eine härtere Gangart des Gesetzgebers.

Nicht nur bei großen Lkw, auch bei Kleinlastern und Transportern sollten elektronische Helfer mit Vollbremsfunktion Pflicht werden. Denn auf den Autobahnen ist oft die Hölle los. Doch der deutsche Gesetzgeber wird da offenbar ausgebremst: Durch internationale Vereinbarungen – denen sich die EU-Staaten anschließen. „Jedes Land hat da unterschiedliche Interessen“, erklärt Unfallforscher Siegfried Brockmann. In etlichen Ländern scheuen Fuhrunternehmen die Kosten für neue Laster. Und alte Fahrzeuge lassen sich meistens nicht nachrüsten.

Brockmann, der für den Gesamtverband der Versicherer in Berlin Unfälle analysiert, fordert klar: In jeden neuen Laster gehört ein Notbremsassistent. „Und die sollten nicht mehr abschaltbar sein.“ Ideal wäre eine Warnkaskade: Warnton, Warnlicht, Teilbremsung, Vollbremsung. Denn: Viele Fahrer bremsen nicht etwa zu spät. Nein: Oft bremsen sie gar nicht. Und rauschen mit vollem Tempo in ein Stauende. Was Forscher in den Unfallberichten dann finden, ist oft haarsträubend: Manche Fahrer schliefen, andere lasen am Tablet Nachrichten oder guckten Filme.

Freilich: Lasterfahren ist langweilig. Mit Tempo 85 zuckeln Brummifahrer über die Autobahn, sehen stundenlang nichts anderes als die graue Plane vom Vorausfahrer. „Das ist monoton. Aber genau dafür sind ja Notbremsassistenten gemacht“, sagt Brockmann.

Staus und Auffahrunfälle entstehen meist in Baustellen. Gut vier Kilometer zuvor stehen die ersten Schilder, zwei Kilometer weiter beginnt die Tempodrosselung ( 100–80–60). Dann folgen Warnbaken und Blinklichter. Zudem gibt es an manchen Stellen Anzeigetafeln, die aufleuchten, sobald der Verkehr zäh wird. „Wir wissen bald nicht mehr, was wir noch machen sollen“, sagt Landesstraßenbau-Chef Uwe Langkammer. „Noch mehr Schilder sind nicht sinnvoll“, meint er. „Wer vier Warner irgnoriert, der ignoriert auch acht.“ Nächstes Jahr will man jedoch etwas Neues testen: Da die Fahrzeuge der Straßenbaubehörde ohnehin mit GPS ausgerüstet sind, sollen sie künftig die Daten von Tagesbaustellen an die Radiosender funken.

Viele Fahrer nervt die enorm hohe Dichte an Baustellen. Jahrelang wurde wenig gemacht, jetzt hat der Staat Geld und baut, was das Zeug hält. Hinzu kommt der Ärger mit Betonkrebs: Weil falscher Kies verwendet wurde, müssen Hunderte Kilometer A 14 und A 9 in Sachsen-Anhalt komplett neu betoniert werden.

Mittlerweile hat sich der Krebs bis Brandenburg gefressen: Dieses Jahr wurden auch große Abschnitte der A 2 erneuert. Baustellen ohne Ende. Eine länderübergreifende Koordination gibt es nicht. Jedes Land entscheidet selber, was wann wo gemacht wird. Reparatauren zeitlich zu strecken, kommt für Sachsen-Anhalts Behörde nicht in Frage. „Wenn wir nicht schnell handeln, wird es immer schlimmer.“ Entspannung ist erst 2019 in Sicht. Dann sind die meisten Pisten saniert – wenigstens in Sachsen-Anhalt.