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Buch zum Defa-Film Der Spion, der aus Magdeburg kam

„For eyes only“ war ein DDR-Agententhriller. Für die historische Vorlage sorgte ein Magdeburger. Jetzt gibt es ein Buch über den Film.

Von Bertha Grosz-Rastenburg 24.07.2016, 05:00

Magdeburg l Das Drehbuch zu "For eyes only" schrieben Harry Thürk und János Veizci. „Die Handlung des Films ist frei erfunden“, flimmerte es im Vorspann des 1963 erstmals aufgeführten Defa-Streifens. Das stimmte nur zur Hälfte, weshalb dem ersten Satz ein zweiter folgte: „Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten und lebenden Personen sind beabsichtigt.“

Die tatsächliche Begebenheit lag einige Jahre zurück. Buchautor Peter Böhm ist der Sache nachgegangen und hat bekannte und unbekannte Fundstücke zu einer neuen, rund 250 Seiten langen Geschichte zusammengefügt. Sein Buch „For eyes only. Die wahre Geschichte des Agenten Horst Hesse“ ist jetzt in der „edition ost“ der Eulenspiegel Verlagsgruppe erschienen.

Laut Verlagsangaben ist es die erste Biografie Hesses. Sie überzeugt nicht auf allen Seiten. Das liegt am Geschehen selbst, das sich in einem naturgemäß eher undurchsichtigen Spionagedschungel abgespielt hat – und an der fehlenden Bereitschaft oder Fähigkeit Böhms, das politische Geschehen in der Zeit des Kalten Krieges differenziert zu betrachten. Es wirkt wenig überzeugend, wenn er sich dabei auf mitunter seitenlange Wiedergaben aus dem SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ zurückzieht.

Wo es um den eigentlichen Fall geht, der später als „For eyes only“ in die Kinos kam, wählte Böhm eine sachlich-nüchterne Erzählweise. Das kontrastiert zu den immer wieder eingeschalteten Szenen aus dem DEFA-Film. „Hätte man dem Kinopublikum in der DDR den wirklichen Verlauf der Aktion erzählt, hätte sich kaum jemand den Film angeschaut“, erklärt der Autor diesen Gegensatz, „denn er war weniger spektakulär als dargestellt“.

Pfingsten 1956 hatte ein ins Würzburger Büro des US-Geheimdienstes MID eingeschleuster Spion des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) den Amerikanern zwei Tresore mit wichtigen Unterlagen geklaut und einen sowie den Inhalt des anderen in einem Mercedes-Sportwagen über Helmstedt und Marienborn in die DDR kutschiert.

Zur Beute gehörten auch Listen mit den Namen von MID-Spionen im Osten. Die Folgen für die Military Intelligence Division (MID) waren verheerend. 137 ihrer Zuträger verschwanden hinter ostdeutschen Gefängnismauern. Die Amerikaner taten das, was in solchen Fällen in der Regel getan wird. Sie bestritten das Geschehen, verurteilten aber ihren geflüchteten Mitarbeiter in Abwesenheit zum Tode. In seinen Lebenserinnerungen „The Making of Spy“ bewertet der frühere MID-Mitarbeiter Gerhardt B. Thamm das nicht Stattgefundene: „Aus Sicht der Stasi eine brillante Geheimdienstoperation; für uns ein höchst ärgerliches Ereignis.“

Der Tresordieb hieß Horst Hesse. Er war Magdeburger, Jahrgang 1922. Schulbesuch, Feinmechaniker-Ausbildung, Heirat, Soldat im Afrikakorps, schwere Verwundung, britische Gefangenschaft, Verwundetenaustausch, wieder Soldat in den Niederlanden, Verwundung und erneut britische Gefangenschaft. Das reicht schon für ein Leben. Aber als Horst Hesse im Oktober 1945 nach Magdeburg zurückkehrt, war er erst 23   Jahre alt. In einem Zeitungsinterview schilderte er Jahrzehnte später den Augenblick: „Ich hatte eine heile Stadt verlassen und kam in einen Trümmerhaufen zurück.“

Der Heimkehrer aus dem Krieg fand Arbeit im Krupp-Gruson-Werk, das bald in Thälmann-Werk umgetauft werden sollte. 1948 meldete sich Hesse zur Volkspolizei. Er habe helfen wollen, sagt er später, jenen das Handwerk zu legen, die sich an der Not bereicherten. Autor Böhm verweist auch auf einen zweiten Grund: „Der Betrieb zahlte gut, die Polizei halt besser.“ Ein paar Mark für Hesse, Ehefrau Ruth und Tochter Marion.

Aber der Polizeieinsatz geriet kurz. Schon nach drei Jahren wurde Hesse entlassen. Die Führung des 1949 gegründeten Arbeiter-und-Bauern-Staates misstraute früheren Kriegsgefangenen der Westalliierten. Hesse gehörte zu dieser Gruppe. Die Angst vor Spionen sorgte damit für einen Knick in der Laufbahn eines der künftig wertvollsten Spione des Landes.

Hesses Agenten-Laufbahn begann, wie vermutlich auch die anderer Spione, eher harmlos. Eines Tages fand er einen unfrankierten Brief im Postkasten. Absender war Rudolf Voigt, ein früherer Nachbar. Der lebte jetzt in Westberlin und lud zu einem Wiedersehenstreffen ein. Hesse trug den Brief zur Polizei. Die schickte ihn zur MfS-Bezirksverwaltung, die sich in der Magdeburger Rathenaustraße befand.

In der für die Spionageabwehr zuständigen Abteilung II witterte man eine einmalige Gelegenheit. Als Geheimer MfS-Mitarbeiter „Jürgen“ wurde Hesse zu Voigt geschickt. Nach viel Alkohol unterschrieb er dort eine Verpflichtungserklärung für die MID. Sein Deckname lautete „Luchs“. Als „Luchs“ lieferte Hesse fortan Nachrichten via Voigt an die Amerikaner. Im Gegenzug gab es gutes Geld und Schulungen im kleinen Spionage-Einmaleins.

In der MID ahnt man nicht, dass „Luchs“ jede Einzelheit zuvor mit den Magdeburger MfS-Leuten abstimmte, ganz gleich ob die Fotos von sowjetischen Truppentransporten, die er aus seinem Wohnzimmerfenster aufnahm, oder die Namen neuer Ansprechpartner für die Amerikaner.

Wie erhofft, wurde man im Würzburger MID-Büro auf den rührigen Magdeburger aufmerksam. Im August 1954 organisiert die Staatssicherheit die Flucht von „Jürgen“ in den Westen. Wochen später hatte er einen Bürosessel in Würzburg. Seine Zuverlässigkeit schaffte Vertrauen. Im Frühjahr 1956 war er zum stellvertretenden Leiter der Niederlassung aufgerückt. Als er nach Übersee versetzt werden sollte, zog die Spionageabwehr in der Berliner MfS-Zentrale die Reißleine. Allerdings sollte er seine MID-Karriere mit einem Paukenschlag beenden. Pfingsten war der Tag X.

Für die „Schlag“ genannte Aktion schickten ihm die Berliner Chefs Helfer nach Würzburg, über die der MfS-Abwehrchef Beater äußerte: „Banditen muss man mit Banditen bekämpfen.“ Die Gelegenheit war günstig. Der Leiter der Würzburger MID-Niederlassung, John C. Walker, machte Urlaub. Die Mitarbeiter wurden von Hesse in die Pfingstferien geschickt. Er selbst hütete das Haus.

Was Hesse wichtig erschien, stopfte er in einen Seesack. Mit seinen Gehilfen räumte er Walkers Büro aus. Zwei Tresore rammte das MfS-Kommando durch die Wand, um sie in bereitstehenden Autos zu verladen. Bei einem Stopp wurde einer der Tresore aufgebrochen. Der Inhalt und der zweite Stahlschrank kamen in den Kofferraum eines Mercedes. Dann ging es über Helmstedt und Marienborn in die DDR.

Ein Paukenschlag, bestens geeignet zum Filmstoff. 1963 lief „For eyes only“ in den Kinos der DDR. Hesse heißt im Film Hansen, und inhaltlich gibt es große Unterschiede. Bis 1973 sahen den Film mehr als zwei Millionen Zuschauer. „Das ist in etwa ein Publikum von elf Millionen auf die heutige deutsche Bevölkerung berechnet“, schreibt Peter Böhm und stellt dieser Zahl die neun Millionen Besucher des meistgesehenen James-Bond-Films („Man lebt nur zweimal“) gegenüber. Allerdings vergisst er, auch diese Zahl gesamtdeutsch hochzurechnen.

Unstrittig wurde „For eyes only“ zum Publikumsrenner. Zur Uraufführung am 19. Juli 1963 im Berliner Filmtheater „Kosmos“ war allerdings nur ein handverlesenes Publikum erschienen: Mitarbeiter des ZK der SED, der Ministerien für Staatssicherheit, für Verteidigung und für Kultur. Neben den Drehbuchautoren Thürk und Veizci waren auch Hauptdarsteller Alfred Müller und Mitspieler im Saal. Sie erhielten „spontanen, lang anhaltenden Beifall“, vermerkte das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“.

Dass Müller an jenem Freitagabend vor den Vorhang treten durfte, verdankte er auch der Zurückhaltung seines Kollegen Günther Simon. Das Publikum in der DDR würde es nicht verstehen, wenn er – der Thälmann-Darsteller in einem zweiteiligen Film über den KPD-Führer – nun einen Agenten spielen würde, hatte dieser die Hauptrolle in „For eyes only“ abgelehnt.

Auch die Zensur griff in die Besetzungsliste ein. Bei der staatlichen Abnahme hatte der stellvertretende Kulturminister Rodenberg den Film gestoppt, weil er die Verantwortlichen des MfS als falsch besetzt und dargestellt empfand. „Den Darstellern der gegnerischen Seite seien sie nicht gewachsen, sie verfügten weder über deren intellektuelles Niveau noch deren persönliche Ausstrahlung“, zitiert Böhm die damalige ministerielle Begründung. Alle Szenen mit Offizieren des MfS mussten in neuer Besetzung – mit Martin Flörchinger, Horst Schönemann und Eberhard Esche – nachgedreht werden. Auch die bereits abgebauten Kulissen wurden noch einmal errichtet. Das verteuerte die Produktion erheblich.

Und Horst Hesse? Er machte noch eine Weile Karriere im MfS. 2006 starb er in Schwedt an der Oder.

Peter Böhm: „For eyes only - Die wahre Geschichte des Agenten Horst Hesse", edition ost 288 Seiten, ISBN-10: 3360018761