1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Ein Denkmal für Tobi

Buchautorin Ein Denkmal für Tobi

Christa Schier-Kirchner schrieb ein Buch über den Quedlinburger Schlossberg aus der Sicht ihrer Katze Tobi.

Von Ivonne Sielaff 14.05.2017, 01:01

Quedlinburg l Christa Schier-Kirchner klettert die Stufen hinauf in ihren Terrassengarten. Der Weg ist steil und mühselig – nicht aber für Christa Schier-Kirchner. Die 74-Jährige lebt seit ihrer Kindheit am Nordhang des Quedlinburger Schlossbergs, ist diese Treppen unzählige Male hinaufgestiegen. Dieses Mal hat sie ein Buch dabei – ihr eigenes. Geschrieben hat sie über die Rettung der Terrassengärten und über ihre Freundschaft zu den Katzen in ihrer Nachbarschaft.

Sie heißen Bruno, Lilli, Leo, Sissi, Fuchsi und Tobi - die tierischen Bewohner des Schlossberges. Sie sind hier zu Hause. Sie gehören dazu – wie die Fachwerkhäuser, die den Berg umsäumen, mit den windschiefen Tritten und den Blumenkästen, wie die Terrassengärten mit ihren Sandsteinmauern.

Überall gibt es etwas für die Katzen zu erleben: Die Touristen, die durch die Gassen schlendern, die den Berg hinaufklettern, um Schloss und Stiftskirche zu besichtigen. Das Klicken der Fotoapparate, die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Die Düfte, die vom Käsekuchenbäcker am Fuße des Berges vorbeiwehen. Oder die Maus, die sich im letzten Moment in ein Erdloch retten kann. „Sie haben ein aufregendes Katzenleben,“ sagt Christa Schier-Kirchner.

Und in den letzten zwei Jahren sogar noch etwas aufregender. Von einen Tag auf den anderen wurde die gewohnte Idylle der Katzen jäh zerstört. Plötzlich waren da fremde Menschen, stählerne Kolosse, die alte Bäume aus dem Boden rissen. Laute Ungetüme, die sie ängstigten.

Die Bauarbeiten begannen im Mai 2015. Die terrassierten Gärten am Nordhang unterhalb des Schlosses waren dringend sanierungsbedürftig. An den alten Sandsteinmauern nagte der Zahn der Zeit. Sie drohten unter der tonnenschweren Erdlast zu zerbersten. Für über zwei Millionen Euro sollte der Hang stabilisiert, mit Drainagen und neuen Treppen versehen und mit neuen Mauern gesichert werden. Der größte Teil des Geldes stammte aus dem Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“.

„Jahrelang durften wir unsere Pachtgärten nicht betreten“, sagt Christa Schier-Kirchner. Zu gefährlich! Solche Verbote gelten für Menschen, aber nicht für die Schlossberg-Katzen. Erst zaghaft, dann forsch rückten sie den Bauarbeitern auf die Pelle.

Besonders neugierig zeigte sich Tobi, die graugetigerte Katzendame mit dem weißen Latz, die bei Christa Schier-Kirchner in dem schmalen Haus mit den braunen Balken wohnt. Wenn man doch wüsste, was im Kopf dieser Katze vor sich geht, was sie von dem Trubel vor ihrer Haustür hält – was sie wohl denkt. Die Schriftstellerin und Malerin hat versucht, in ihre Seele zu blicken, hat ein Buch geschrieben, in dem sie die Bauarbeiten dokumentiert – aus der Sicht ihrer Katze Tobi. „Ich fotografiere gern, und so nah kommt man doch nie wieder an ein Baugeschehen heran. Ich habe alles zusammen mit Tobi verfolgt. Das ist doch spannender, als eine einfache Dokumentation.“

Die pensionierte Lehrerin hat eine besondere Beziehung zum Schlossberg und seinen Terrassengärten. Im Jahr 1912 erwarben ihre Großeltern das Haus, in dem sie noch heute lebt und ein winziges Antiquariat betreibt. Deren Söhne waren Handwerker. Sie hielten das alte Gemäuer in Schuss. Ihr Vater Robert Schier sei es gewesen, der 1932 die Idee hatte, einen Teil des Nordhangs zu terrassieren. „Vorher war das alles Hang – von der Straße bis hoch zum Schloss.“

Er habe im Rathaus nachgefragt, von seinem Plan berichtet. „Dort waren sie nicht abgeneigt, weil sie endlich jemand hatten, der sich um das Gelände kümmert, der den Hang pflegen würde.“ Viele Nachbarn packten mit an. „Mit Pferdewagen haben sie Bodekies und Sandsteine geholt, die Mauern hochgezogen, die Treppen angelegt. Das war eine wahnsinnige körperliche Arbeit.“ In ihren Terrassengärten bauten die Schlossberg-Bewohner später Gemüse an, hielten Hühner, Kaninchen und Tauben. In den letzten Jahren dienten die Gärten eher der Erholung.

Die Arbeit an dem Buch sei ihr leicht von der Hand gegangen, sagt Christa Schier-Kirchner. Die Bauarbeiter seien von ihrem Buchprojekt begeistert gewesen. „Es kommt ja nicht so oft vor, dass sich jemand so für sie interessiert. Und Tobi war ein gern gesehener Gast.“

Aufregend sei der Tag gewesen, als plötzlich der riesige Kran in der Gasse zwischen den Fachwerkhäuschen und der Sandsteinmauer stand. Als Nachbarskater Leo in einen Betontrog fiel. Als die Schlossberg-Bewohner neun Tage lang nach der verschwundenen Katze Bollechen suchten. Als die stählernen Ungetüme endlich abzogen, als wieder Rasen ausgesät und Obstbäumchen gepflanzt wurden. Alles festgehalten in Wort und Bild. Zur großen Freude von Christa Schier-Kirchner wurde ihr Buch nicht nur von der Stadt, sondern sogar vom Bund gefördert. Die Präsentation von „Bauaufsicht Tobi“ fand im Quedlinburger Rathaussaal statt. „Eine Ehre für mich, das war schon ein Highlight.“

Doch unerwartet schlug das Schicksal zu. Einen Tag vor der großen Premiere starb Katzendame Tobi plötzlich mit elf Jahren. Für Christa Schier-Kirchner ein Schock. „Sie war so ein liebes Tier, so neugierig, so intelligent. Wie ein kleines Kindchen ist sie immer mit mir mitgekommen, hat vorm Laden gewartet, wenn ich einkaufen war.“ Der Rentnerin kommen die Tränen, als sie von der geliebten Katze spricht. „Sie fehlt mir so sehr.“

Vor wenigen Tagen wurden die Pachtgärten wieder an die Bewohner des Schlossbergs übergeben. Nach Jahren können Christa Schier-Kirchner und ihre Nachbarn sie endlich wieder betreten. „Ich werde einen kleinen Teil befestigen“, sagt Christa Schier-Kirchner. „Für eine Sitzecke.“ Sie freut sich schon auf ihr neues, altes Reich, von dem aus sie den Schlossberg überblicken kann – mit seinen verwinkelten Gassen und den Fachwerkhäusern, mit all den Katzen, die über die Klippen huschen, die ein oder andere Maus über das Kopfsteinpflaster jagen. Mit den vielen Touristen, die sich immer häufiger nach ihrem neuen Buch erkundigen. Ihrer Tobi habe sie damit wahrscheinlich ein Denkmal gesetzt, sagt Christa Schier-Kirchner. „Ich glaube, es hätte ihr gefallen.“