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DDR-Flucht Sparwasser panisch an der Grenze

Am 9. Januar 1988 versetzte Jürgen Sparwasser der DDR einen Schlag. Bei einem Fußball-Turnier in Saarbrücken sagte das FCM-Idol "tschüss" .

Von Bernd Kaufholz 09.01.2018, 00:01

Magdeburg l Als Wolfgang „Paule“ Seguin am 9. Januar 1988 am Mittagstisch beim Saarbrücker Bürgermeister sitzt, fällt ihm auf, dass zwei Spieler der Altherrenmannschaft des 1. FC Magdeburg fehlen. Der ehemalige Mittelfeldspieler des Clubs vermisst Stürmer Martin Hoffmann, der zum ersten Mal bei dem Traditions-Turnier im Südwesten der Bundesrepublik dabei ist, und seinen „zweitbesten Freund“, Jürgen Sparwasser.

Der heute 72-Jährige erinnert sich: „Der kleene Martin kam dann gegen 12.45 Uhr mit einer Viertelstunde Verspätung – er hatte sich verlaufen –, aber ,Spari‘ ließ weiter auf sich warten. Ich habe noch gesagt: Menschenskind, der hat wohl verpennt und bin dann gegen 13 Uhr mit Masseur Hans Weber ins Hotelzimmer von Jürgen gegangen. Da lag ein Brief an die Mannschaft.“ Seguins Reaktion damals: „Den sehen wir nicht wieder.“

Er sei völlig überrascht gewesen. „Allerdings fiel mir im Nachhinein auf, dass ,Spari‘, der eigentlich ein ruhiger Vertreter war, beim Passieren der Grenzkontrolle in Marienborn am 8. Januar ziemlich nervös gewesen war.“

Beim Spiel am nächsten Tag habe eine „Sch...-Stimmung „geherrscht, so der FCM-Oldie. „Wir hatten auch überlegt, ob wir die ganze Sache abblasen. Aber letztlich sind wir doch aufgelaufen.“

Jürgen Sparwasser selbst, der heute in der Nähe von Frankfurt am Main lebt, will inzwischen zu seinem Weggang aus der DDR, kurz vor dem Wendejahr 1989, nichts mehr sagen. „Dazu wurde alles berichtet“, so der gebürtige Halberstädter.

Bekannt ist, dass es kein spontaner Gedanke war, der ihn zum Bleiben im Westen veranlasste. Die Sache war durchgeplant. Dabei spielte dem Stürmer, der bei der Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik das goldene 1:0-Siegtor der DDR gegen die hoch favorisierte BRD-Elf schoss, die Tatsache in die Hände, dass Ehefrau Christa zur selben Zeit Verwandte im Westen besuchte.

Hintergrund für den Weggang des Diplomsportlehrers war, dass er nach dem Ende seiner aktiven sportlichen Laufbahn den 1. FC Magdeburg trainieren sollte. Er wollte aber lieber an der Pädagogischen Hochschule Magdeburg lehren.

Er habe immer davon geträumt, mit Jugendlichen zu arbeiten, sagte er nach seinem Weggang. „Meine Kollegen und ich hatten den Auftrag, das DDR-Schulsystem im Sport zu verändern.“ Über Sportspiele und speziell über Fußball wollte er seine Doktorarbeit schreiben. Doch dann kam 1986 die SED und suchte einen neuen Cheftrainer für den 1. FCM.

„Ich habe dreimal abgelehnt“, begründete Sparwasser später seinen Entschluss. „Von diesem Zeitpunkt an musste ich andere Dinge an der Hochschule machen. An eine Doktorarbeit war nicht mehr zu denken.“

In seiner 2010 erschienenen Autobiografie schreibt er: „Walter Kirnich (Vizechef der SED-Bezirksleitung, bk), hatte skrupellos zuerst die berufliche Karriere meines Trainers (gemeint ist die Magdeburger Fußball-Legende Heinz Krügel, bk) und jetzt auch meine zerstört, was letztlich für mich und meine Familie eine ungewisse Zukunft bedeutete.“

Er habe sogar noch versucht, dem Parteioberen seine Lage zu erklären, aber „menschliche Aspekte“ hätten bei dem Mann „überhaupt keine Rolle“ gespielt. „Wer sich nicht seiner Machtbesessenheit unterordnete, wurde eiskalt abserviert. Er wollte uns einfach erniedrigen.“

Doch seien er und seine Frau sich einig gewesen, dass ihm das bei ihnen nicht gelingen sollte. „Wir Sparwassers waren immer Leute, die sich morgens beim Blick in den Spiegel noch erkennen wollten. So gab es für uns nur eine Alternative.“

Seit langem waren Jürgen und Christa Sparwasser mit einem Ehepaar befreundet, das einen Ausreiseantrag gestellt hatte und sich mit den Ausreisebestimmungen gut auskannte. „Mit Ausnahme unserer Tochter, waren Sylvia und Wolfgang die Einzigen, die uns in unserem Vorhaben bestärkten.“ Zuletzt habe es nur eine Handvoll Menschen gegeben, die vom Plan, die DDR zu verlassen, gewusst hätten. Darunter auch Oma „Mielchen“ aus Bad Homburg.

Jürgen Sparwasser schildert einen Waldspaziergang mit dem befreundeten Ehepaar im Sommer 1987. „Wir sprachen über die Ausreise. So etwas machte man am besten in der freien Natur. Ich fragte ganz spontan: Was würdet ihr sagen, wenn Christa und ich eher drüben wären, als ihr?“

Die große Chance sei Anfang Januar 1988 gekommen. Die Vorschriften für DDR-Bürger, die Verwandte in der BRD besuchen wollten, waren leicht gelockert worden. „Die Familie der Tante meiner Frau feierte in Lüneburg ein Jubiläum. Gleichzeitig fand in Saarbrücken ein Altherrenturnier statt.“ Und genau diese Gelegenheit wollten die Sparwassers nutzen.

Doch der Reiseantrag seiner Frau wurde abgelehnt. Damit wollte sich das DDR-Sportidol aber nicht zufriedengeben. Er fuhr mit ihr zum Volkspolizeikreisamt. Dort teilte ihnen ein Uniformierter die Begründung mit: „Ihre Frau ist nicht tragbar.“ Sparwasser sah rot, beschimpfte den jungen VP-ler und den Staat.

Wenige Tage später nahmen die Sparwassers ihren ganzen Mut zusammen und starteten einen zweiten Versuch. Und zu ihrer Überraschung war die Polizistin, die ihnen nun gegenüber saß, ausgesprochen freundlich: „Rufen Sie mich bitte morgen früh noch einmal an.“

Am nächsten Tag konnte Christa Sparwasser ihren Reisepass abholen. Ihre Abreise klappte, aber bei der Westreise der Altherrenmannschaft gab es Komplikationen. Der Bus wartete zwei Stunden auf den Clubvorsitzenden, der die Reisedokumente für den FCM aus Berlin holte.

Die von „Paule“ Seguin beschriebene Aufgeregtheit erklärt Sparwasser: „Als unsere Pässe kontrolliert wurden, habe ich mich gefragt: Gibt der dir jetzt deinen Pass zurück oder holt er dich raus, um mit dir in eine ,Grüne Minna‘ Richtung Bautzen umzusteigen? Ich wurde leicht panisch.“

Doch alles ging gut. Am 8. Januar, abends, rief der Kicker seine Frau an und sagte das verabredete Passwort. Dann telefonierte er mit einer Bekannten in Saarbrücken und bat sie, ihn am nächsten Morgen um 10 Uhr vom Hotel „La Residence“ abzuholen.

Nach dem gemeinsamen Mannschaftsfrühstück stand ein Stadtbummel an. „Mit der Ausrede, ich habe meine zehn Mark West vergessen, ging ich ins Hotel zurück. Ich schrieb ein paar Abschiedszeilen an meine Mannschaft, mit der ich 25 Jahre durch dick und dünn gegangen bin.“ Er versuchte, seinen Entschluss zu erklären. „Vielleicht werden sie es ja verstehen“, dachte er. Die Bekannte holte Sparwassers Koffer aus dem Zimmer. Dann ging es Richtung Frankfurt.

Die offizielle Reaktion der DDR konnte man am nächsten Tag den Medien entnehmen: „Die Anwesenheit einer Altherrenmannschaft des 1. FC Magdeburg in Saarbrücken benutzten sportfeindliche Kräfte zur Abwerbung von Jürgen Sparwasser, der seine Mannschaft verriet.“

Seguin und dem Rest der Sportdelegation fühlte die Stasi nach der Ankunft in Magdeburg auf den Zahn. „Wir haben nur immer gesagt: Wahrscheinlich hat er den Bus verpasst.“

Der Fall „Sparwasser“ war am 9. Januar gegen 19.30 Uhr von der sogenannten Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKD) der Stasi-Bezirksverwaltung Magdeburg bekannt geworden. „Der als Delegationsleiter fungierende Clubvorsitzende, Gen. Herbert König, hat am 09.01.88 bei der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD eine Vermisstenanzeige zum Mitglied der Delegation, Jürgen Sparwasser, erstattet“, hieß es da.

Am 10. Januar teilte die ZKD um 8.30 Uhr mit, dass „Sparwasser seinen BRD-Aufenthalt zum ungesetzlichen Verlassen der DDR nutzte.“ Als Quelle für diese Information wird die BRD-Nachrichtenagentur dpa angegeben.

Zusätzlich wurde durch das Lagezentrum der Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung mitgeteilt, dass „Sparwasser einen an den Delegationsleiter (...) gerichteten Brief hinterlassen hat, in dem er mitteilte, dass er mit seiner Ehefrau in der BRD verbleiben und die Gründe für seinen Entschluss später mitteilen wird“.

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