Breitenhagen im Elbe-Saale-Winkel wird etwa 40 Einwohner verlieren Erst kam das Hochwasser, jetzt gehen die Leute
Breitenhagen l Breitenhagen ist einer der am schlimmsten vom Sommerhochwasser getroffenen Orte im Land. Das Dorf im Elbe-Saale-Winkel hat noch ein anderes Problem: Die Leute ziehen weg.
"Es ist zum Verzweifeln", schaut Ortsbürgermeister Kurt "Bodo" Kotzur aus dem Bullauge des malerischen Museumsschiffs "Marie-Gerda", wo er sein "Gemeindebüro" hat. Der Blick des 70-Jährigen bleibt starr an einem der novembergrauen Elbebäume hängen, als ob daran die Zukunft des Dorfes ablesbar sei. "Seit Jahren versuchen wir, dass die Leute hierbleiben. Und nun so was", sagt Kotzur mehr zu sich selbst.
Gemeint sind seine kommunalen Bemühungen, die Abwanderung zu stoppen. Immer wieder hatte der Ortschef in Sitzungen der Einheitsgemeinde vor irreparablen Zäsuren gewarnt: Die Kindertagesstätte wurde geschlossen, kommunaler Gebäudebesitz steht zum Verkauf. In die Kita hatte man vor der "Zwangsehe" noch kräftig investiert, wie Kotzur die verordnete Einheitsgemeindebildung nennt.
Doch dann kam, was nicht mehr aufzuhalten war: Wegen sinkender Kinderzahlen wurde sie dichtgemacht. Makabererweise war sie eines von ganz wenigen Gebäuden, das vom Hochwasser verschont blieb.
Im Frühjahr hatte Bodo Kotzur noch gewettert, dass die Bürgernähe heutiger Kommunalpolitiker im Konstrukt Einheitsgemeinde immer mehr auf der Strecke bleiben würden. "Das gesellschaftliche Leben auf dem Land muss aufrecht erhalten werden. Das ist eine große Aufgabe", mahnte er. Deswegen wolle er seine Kraft für den Erhalt des Schiffsmuseums "Marie-Gerda" und der Reaktivierung der maroden Gaststätte "Goldenes Schiffchen" einsetzen. Doch jetzt will er nur noch die 775-Jahr-Feier 2014 über die Bühne bringen und dann den Dienst quittieren.
Seit dem Schicksalstag 9. Juni 2013 ist in Breitenhagen kaum noch etwas wie es mal war. Nach tagelangem Dauerregen war der Druck auf die Deiche am Zusammenfluss von Elbe und Saale extrem groß geworden. Bei dieser Rekordflut brach zuerst der zwei Kilometer entfernte Saaledamm, Stunden später der alte Ringdeich, der das Dorf umgibt. Danach lief Breitenhagen voll wie eine Badewanne. Tags zuvor hatte man die 460 Einwohner evakuiert. "Etwa 40 Bürger wollen Breitenhagen verlassen oder haben es bereits getan", winkt Bodo Kotzur resigniert ab. Kein Mensch redet ihn im Elbe-Saale-Winkel mit seinem richtigen Vornamen Kurt an. Der 70-Jährige ist seit 30 Jahren Bürgermeister - zweitdienstältester im Salzlandkreis.
Geschätzte 40 Einwohner weg, wo man am Ende eines jeden Jahres die Statistik mit gemischten Gefühlen verfolgte, wenn es vier oder fünf waren. Lagen die Geburten deutlich unter der Sterberate, bewegte sich das schrumpfende Dorf dennoch im ländlichen Sachsen-Anhalt-Trend.
Doch jetzt verzeichnet die Barbyer Einwohnerstatistik seit März einen Schwund von 30 Personen. Marion Koppelin vom Einwohnermeldeamt Barby vermutet, dass einige Breitenhagener zurückkommen werden, wenn ihre Häuser saniert sind.
Aufgegeben hat Frank Leuschner (50). Die Schäden an seinem 70 Jahre alten Haus wurden hauptsächlich durch auslaufendes Heizöl verursacht. Die Tanks im Keller riss das Wasser aus ihren Verankerungen. 1500 Liter Öl breiteten sich aus, wurden vom Mauerwerk aufgesaugt. Der beißende Geruch ist allgegenwärtig. Das Haus liegt mit an der tiefsten Stelle des Ortes. Hier stand das Wasser fast zwei Meter hoch. Die Familie Leuschner kaufte sich im benachbarten Colno ein Grundstück. Der winzige Ort liegt auf einem eiszeitlichen Höhenzug. "Da ist es windig, aber trocken", sagt Leuschner lakonisch. Frank Leuschners Eltern und Schwiegereltern bleiben in Breitenhagen.
Die Katastrophe vom 9. Juni hat die Leute dünnhäutig werden lassen. Zwar wurden die beiden gebrochenen Deiche aufwändig repariert. Was aber ist mit den unsanierten? "Eine neuralgische Stelle ist der Damm am Schlossberg", sagt Leuschner. Er sei zu niedrig, habe keine Spundwände, die Häuser stehen nur einen Steinwurf entfernt. Laut Umweltministerium sollen alle Deiche im Land bis 2020 den DIN-Normen gerecht werden. Bis dahin werden die Breitenhagener ihr mulmiges Gefühl nicht los.
Frank Leuschner zählt zu jenen Männern, die bis zur letzten Minute versuchten, den Deichbruch am Schöpfwerk zu verhindern. Hautnah war er am Geschehen und fragt sich noch heute, warum die Hubschrauber erst mit den Bigbags kamen, als alles viel zu spät war.
Auch Peter Butz war am Deich, derweil bei ihm zu Hause die Katastrophe ihren Lauf nahm. "Im Haus des 51-Jährigen erkennt man nicht mehr, welcher Raum mal Wohnstube, Küche oder Schlafzimmer war. Alles ist komplett entkernt. Bis Weihnachten wollen wir fertig sein", lächelt Butz matt. Den Großteil der bisherigen Handwerkerleistungen habe er privat finanziert, weil sich die Aufbauhilfe der Landesinvestitionsbank hinziehe. Peter Butz wohnt in der Neuen Straße, die ebenso wie die Breite Straße, wo Leuschners lebten, am tiefsten liegt.