Landwirtschaft Feinkost aus dem Harz-Vorland
Hans-Günter Demmel hat auf einem Vierseitenhof in Rohrsheim in Sachsen-Anhalt seine Vorstellung von Landwirtschaft verwirklicht.
Rohrsheim l Dass Hans-Günter Demmel heute über den Vierseitenhof in Rohrsheim bei Osterwieck geht, ist keine Selbstverständlichkeit. Dabei sind das Wohnhaus mit dem Gewölbekeller, die Ställe, das Kopfsteinpflaster, der kleine Garten vor dem Hof Teil seiner Familiengeschichte.
Zu dem Gut gehört heute eine Produktionshalle. Hier zieht Hans-Günter Demmel einen der Deckel von den Edelstahlkannen. Ein stechend-scharfer Geruch steigt in die Nase. „Das ist der schlechte Alkohol“, erklärt er und beißt in seine Käsestulle. Sein Mittagessen für heute. Deckel wieder drauf. Dann geht er in Richtung Zentrum der Halle zu dem kupferfarbenen Brennofen, einer Destillieranlage. Die vier Meter hohe Maschine mit Bullaugen, Schaltuhren, Rohren und Drehknüppeln sieht aus, als könnte man mit ihr in die Zukunft reisen. Stattdessen trennt sie aus Maische Alkohol ab und spuckt ihn schließlich Kannen. Erst den schlechten, dann den guten. Der schlechte wird auch als Vorlauf bezeichnet. Der Anteil an giftigem Methanol ist hoch. Deswegen kippt Hans-Günter Demmel das Anfangsdestillat weg. Der gute ist der trinkbare Alkohol. Die Grundlage für die Spirituosen, die hier entstehen.
Die Halle gehört zu dem Vierseithof in der Östernstraße 1 in Rohrsheim. Hier werden Whisky, Gin, Liköre, Fruchtaufstriche, Gänseschmalz und Speiseöle produziert. Es ist keine Fabrik. Dazu ist die Menge von 10.000 Flaschen Alkoholgetränken zu gering. Eher eine Manufaktur, in der per Hand geerntet, geschüttet, entsaftet, geschraubt, geklebt wird.
Hans-Günter Demmel kommt alle zwei Tage vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Dann schlurft er über den Hof, zu dem auch noch ein Gästehaus, ein Veranstaltungsraum und ein landwirtschaftliches Museum gehören. Etwa 150 Besucher kommen jeden Monat in das kleine Dorf im Harzvorland, um sich die alten Acker- und Haushaltsgeräte anzusehen, schätzt er. In die Mitte des Hofes hat Hans-Günter Demmel einen Walnussbaum gepflanzt.
Diese Woche ist er jeden Tag hier. Der Brennmeister hat Urlaub, also muss er selbst ran. Hans-Günter Demmel ist ein Kriegskind. Jahrgang 39. Er trägt Schiebermütze zu Tweed Jackett. Oliver Twist um 70 Jahre gealtert. Wenn er spricht, scheint es, als schließe er die Augen, als schliefe er. Nur sein Mund bewegt sich. Dann plötzlich wieder ein kurzer wacher Blick über den Rand seiner Brillengläser hinweg.
Seine Frau Christa, sein Sohn Thomas und er haben den Hof im Jahr 2002 gekauft. Zurückgekauft. Gehörte er doch bis 1945 der Familie seiner Frau, den Pollands.
Nach Kriegsende enteignete die sowjetische Besatzungsmacht im großen Stil Produktionsmittel in Ostdeutschland und erklärte sie zum Volkseigentum. Währenddessen war Christa Demmels’ Vater schon in politischer Gefangenschaft der Sowjets in Buchenwald. Er bekam nichts davon mit, dass seine Familie von einer Stunde auf die andere vor dem Nichts stand und fliehen musste. Christa Demmel und ihre Familie zogen nach dem Verlust ihrer Landwirtschaftshöfe in Vogelsdorf und Rohrsheim zunächst nach Langeln und ein Jahr später weiter nach Watenbüttel bei Braunschweig, wo sie Verwandtschaft hatten. Das junge Mädchen wuchs nahe der Stadt auf und lernte Bankkauffrau. Sie ahnte nicht, dass die Landwirtschaft Jahrzehnte später doch noch ihr Leben werden sollte. Sie die Höfe ihrer Familie zurückholen sollte.
Hans-Günter Demmel wurde in Braunschweig geboren. Um ihren Sohn vor den Bombenangriffen während des Kriegs zu schützen, brachten sie ihren Sohn zu seiner Tante in ein Dorf nahe der Grenze, Walbeck im Landkreis Börde. Auf dem Landwirtschaftshof seiner Verwandtschaft verbrachte er seine Kindheit. Er wollte es so. Sein Bruder war bei den Eltern in der Stadt geblieben.
Mediziner sollte er werden, befand sein Vater, ein Bankangestellter und Städter durch und durch. Aber Hans-Günter Demmel entschied sich für die Landwirtschaft. „Arzt ist nichts für mich. Ich hätte den Patienten meist geraten: ,Stell dich nicht so an‘“, sagt er. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Er begann zunächst eine Lehre, bevor ihm ein paar Jahre später die Hochschule in Osnabrück sein Diplom für das Landwirtschaftsstudium überreichte.
Er interessierte sich nicht sonderlich für Schafe oder Kühe, wollte nicht stundenlang mit dem Trecker herumfahren. Vielmehr war es der betriebswirtschaftliche Aspekt, der ihn während des Studiums interessierte. Und so wechselte er nach der Ausbildung zunächst in ein Steuerberatungsbüro, bevor er bis zur Rente in leitender Position ein einem Consulting-Büro arbeitete. „Ich würde sie sofort wieder heiraten“, sagt der 80-Jährige heute über seine Frau Christa. Er brauchte damals ein Buch, um sich auf die Abschlussprüfung vorzubereiten. Ein Junge im Ort besaß es. Hans-Günter Demmel hörte davon, klingelte bei ihm und ließ sich die Tür vor der Nase von der kleinen Schwester zuschlagen. Das aufmüpfige Mädchen imponierte ihm. Sie war hübsch. Am Bus traf er sie zufällig wieder und wieder und irgendwann ließ sie sich von ihm zum Kaffee einladen. Da war er 23, sie 17 Jahre. Sie heirateten, bekamen zwei Söhne.
Die Jungs hatten einen guten Draht zu ihrem Opa. Der Mann, der 1950 aus der politischen Gefangenschaft der Sowjets in Buchenwald entlassen wurde. Der Mann, der dann selbst vor dem Nichts stand, weil das Vertraute aus den Höfen in Vogelsdorf und Rohrsheim verschwunden war. Nicht mehr ihnen gehörte. Er zog weiter nach Watenbüttel zu seiner Familie, zu seiner Tochter, die inzwischen fünf Jahre alt geworden war. Christa Demmel erinnert sich an das Gefühl, dass ihr Vater die Zeit, die er mit ihr verpasst hatte, mit ihren Kindern nachholte.
„Mein Schwiegervater hat unseren Jungs viel von den Höfen erzählt“, so Demmel. Als Deutschland 1989 eins wurde, waren sie es, die darauf drängten, sich der Höfe wieder anzunehmen. Sie versprachen ihren Eltern, sie zu unterstützen. Der Jüngere von beiden, Thomas Demmel, ließ sich neben dem Jura-Studium zum Landwirt ausbilden.
Thomas Demmel lebt heute in Othmarschen, einem Stadtteil von Hamburg. Er arbeitet als Jurist, ist viel unterwegs. Nicht Hans-Günter Demmel führt die Geschäfte der Harzer Manufakturen, sondern er, der Sohn. Alle paar Wochen kommt er vorbei. Hans-Günter Demmel ist der Mann fürs Operative. Für den Acker, fürs Brennen, für die acht Mitarbeiter und die Erntehelfer im Sommer, fürs Ausliefern der Ware, fürs Verkosten. Am liebsten ist ihm der Likör aus dem Roten Boskoop. Ein Winterapfel, alte Sorte, auch bekannt als Schöner aus Boskoop. Aber viel trinkt er nicht. Pro Woche vielleicht mal einen.
„Mein Sohn lässt mich hier wurschteln“, sagt er. Er findet, dass der Mensch rege bleiben, unter Strom stehen muss, sonst verkümmert er. Ein Anspruch, den er auch an seine Mitmenschen stellt. Mit einem Bier im Garten sitzen, die Dinge laufen lassen wie sie sind. Jedenfalls nicht sein Verständnis vom Leben. Sein Frau sagt: „Mein Mann hat einen starken Willen.“
Seit mittlerweile zehn Jahren entsteht auf dem denkmalgeschützten Hof in Rohrsheim Feinkost in Bio-Qualität. Auf 250 Hektar Land in der Umgebung wachsen Apfel-, Kirsch-, Quitten- oder Mirabellenbäume. Auch Getreide. Das Obst für die Brände stammt von seinen Streuobstwiesen. Es ist Hans-Günter Demmel wichtig. Zu groß seine Angst vor Qualitätseinbußen, wenn doch mal ein fauler Apfel in den Maischbrei gerät. 100 Kilogramm Obst benötigt er, um knapp fünf Liter guten Alkohol herzustellen.
Die Rohrsheimer Manufaktur liefert vor allem an Bio- und Spezialitäten-Läden in der Region und Hotels. Aber auch die Autostadt in Wolfsburg gehört zu den Kunden. Demmel selbst fährt die Flaschen alle paar Wochen in die niedersächsische Stadt. Auch zwei Restaurants auf Mallorca bieten die hochprozentigen Getränke aus Rohrsheim an.
„Bis 2020 wollen wir uns vergrößern“, sagt Hans-Günter Demmel. Er träumt davon, dass sein Wodka auch in Moskau oder Riga getrunken wird. Er will von 10.000 Flaschen im Jahr auf 80.000 Flaschen. Von 8 Mitarbeitern auf 15. Eine zweite Destillieranlage soll dazukommen, eine weitere Geistanlage für Gin und Wodka, ein Maischeproduktionskessel. Dazu bauen sie ein zweites Grundstück aus, mit Whiskykeller und Betten für Fahrradtouristen.