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Flüchtlinge Das erste Weihnachten im Oberharz

Vor zwei Jahren haben die Ashis ihr Weihnachtsfest noch in Syrien begangen. Nun feiert die christliche Familie das erste Mal im Oberharz.

Von Jörn Wegner 25.12.2016, 02:00

Hasselfelde l Hasselfelde ist ein beschaulicher Ort. Es gibt einen Sportverein, eine freiwillige Feuerwehr, den Schützenverein und Freizeitchöre. Und es gibt neuerdings eine Kennzahl in der Flüchtlingsstatistik: „Hasselfelde: 4“. Dahinter verbirgt sich Familie Ashi, Mutter Nurin, Vater Rami und die beiden Töchter Soya und Tala. Die syrische Familie hat eine neue Heimat in dem 2500-Einwohner-Ort im Oberharz gefunden.

2016 ist für die vier ein besonderes Jahr. Erstmals können sie wieder ungestört Weihnachten feiern. Weder der Bürgerkrieg in Syrien noch die Belastung durch Massenunterkünfte und Bürokratie in Deutschland trüben das Fest.

Probleme gab es nie, berichtet Nurin Ashi, wenn sie und ihre Nachbarn die Straße in Latakia zu Weihnachten festlich geschmückt haben. Im Gegenteil, auch die Muslime haben sich die bunten Lichter gern angeschaut. Doch dann rückte der Bürgerkrieg immer näher an die syrische Mittelmeerstadt heran. Es drohten die Bomben der syrischen Armee und der Terror des sogenannten Islamischen Staats. Im Sommer 2015 verließen die Ashis Syrien. „Wir konnten die Kinder nicht mehr zur Schule schicken“, sagt Nurin. Die Gewalt sei allgegenwärtig gewesen.

Dorothea und Reiner Schomburg haben die Syrer im selben Jahr in einem Sprachkurs kennengelernt. Damals lebte die Familie in einer Außenstelle der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber Halberstadt, der Pension „Sorgenfrei“ im Harzdörfchen Sorge. Die heruntergekommenen Zimmer waren zwar besser als die Massenunterkunft in Halberstadt. Als sich allerdings herausstellte, dass der Heimbetreiber im Keller eine Hanfplantage betrieb, mussten die Geflüchteten nach Merseburg in eine Schule umziehen. Für Nurin Ashi eine schlimme Zeit: „Sie sind jeden Tag gekommen und haben Steine geworfen.“ „Sie“ sind Neonazis und deren Mitläufer, die regelmäßig die Massenunterkunft in Merseburg angegriffen haben.

In Hasselfelde geht es freundlicher zu. Die Schomburgs haben die mittlerweile zu Freunden gewordene Familie aus Merseburg in den kleinen Oberharz-Ort geholt. Bald entstand die Idee, ein Nebengebäude auf dem Grundstück der Schomburgs zu renovieren. „Die größte Herausforderung war aber, sie aus dem Saalekreis in den Harz zu bekommen“, sagt Reiner Schomburg. Trotz Wohnung und bester Betreuung wollte die Bürokratie die Ashis erst nach langen Auseinandersetzungen aus der Notunterkunft entlassen.

Weihnachten 2016 ist für die Ashis das erste ruhige Fest seit Jahren und für Hasselfelde das erste mit syrischem Einschlag. Ein Weihnachtsbaum aus Kunststoff steht in der Wohnzimmerecke. Was für Deutsche mehr praktisch als festlich ist, ist für Syrer normal. Denn Nordmann- und Blautanne gibt es auf der Arabischen Halbinsel nicht. Statt Spekulatius und Dominosteinen steht zuckersüßes Gebäck mit Datteln, Nüssen und Kokosraspeln auf dem Wohnzimmertisch. Wiederum sehr deutsch schallt es aus dem Kinderzimmer. Soya und Tala Ashi üben gemeinsam mit einer Schulfreundin Weihnachtslieder. Im Ort nehmen die beiden Klavierunterricht, nur ein Klavier fehlt noch. Für „Stille Nacht“ muss ein Keyboard herhalten. „Wir sind glücklich hier, wir haben eine Wohnung“, sagt Nurin Ashi und kurz darauf: „Ich vermisse Syrien und unser Haus.“

Weihnachten haben die katholischen Ashis in Syrien gemeinsam mit den vielen anderen christlichen Religionsgemeinschaften gefeiert. Bei der Mitternachtsmesse trafen sich Freunde, Verwandte und Nachbarn.

Knapp 2,5 Millionen Christen, zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, lebten vor dem Krieg in Syrien. Heute sind es noch rund 700 000. Zwar trifft der Terror des IS vor allem Muslime. Syrien, in dem einst Religionsfreiheit herrschte, gilt heute aber als eines der gefährlichsten Länder für Christen.

Nach Sachsen-Anhalt, wo 82 Prozent der Einwohner keiner Religion angehören, bringen die Ashis auch eine alte christliche Tradition. Die 40-tägige Fastenzeit vor dem Weihnachtsfest ist in Deutschland fast unbekannt. Die Regeln sind kompliziert, grundsätzlich besteht der Fasten-Speiseplan aber aus Gemüse und Getreide, Fleisch ist vor Weihnachten tabu, Fisch nur an besonderen Tagen erlaubt.

Und danach wird aufgetischt. „Es gibt ein besonderes Essen“, erklärt Nurin Ashi. Es sind typische Köstlichkeiten der Nahost-Küche: „Hühnchen mit Reis, Rindfleisch, gefüllte Weinblätter und Rotwein.“ Für das Süße ist Ehemann Rami zuständig. In Ashis Küche herrscht Arbeitsteilung, Nurin kocht, Rami backt.

Unter Ashis Plastik-Tanne findet sich eine weitere syrische Besonderheit. Eine Krippe ist Bestandteil der arabischen Weihnachtsdekoration, am besten selbstgebastelt. Nurin Ashi zeigt ein Foto aus ihrem Haus in Latakia. Unter dem Weihnachtsbaum ist eine riesige detailreiche Landschaft zu sehen, mittendrin steht die Krippe. „Alles selbstgemacht“, sagt die Frau.

Heißer Wein hingegen sei eine sehr merkwürdige Sache, sagt Nurin Ashi. Die Familie war bereits auf Weihnachtsmärkten zu Besuch – eine typisch deutsche Tradition, die im traditionellen Christentum in Syrien unbekannt ist. Der Glühwein hat nicht überzeugt. Wein gibt es bei Ashis zum Festessen, aber nur bei Zimmertemperatur.

Familie Ashi hat sich in den wenigen Monaten in das Oberharzer Leben eingefügt. Die ältere Tochter Tala ist im Spielmannszug, ihre Schwester tanzt im Verein. Vater Rami spielt bei Grün-Weiß Hasselfelde Volleyball, Mutter Nurin unterstützt andere Syrer bei den ersten Schritten in Deutschland.

Noch vor einem Jahr kannte die Englisch-Lehrerin nur einzelne deutsche Wörter, heute kann sie ohne größere Schwierigkeiten ein Gespräch führen. Die Töchter sprechen mittlerweile fast fließend Deutsch, Tala besucht das Gymnasium, Soya die Grundschule. Rami Ashi hatte bereits erste Vorstellungsgespräche. Sobald es mit der Sprache klappt, könnte das Fachwissen des Wirtschaftsmathematikers gefragt sein.

Eine Bilderbuchfamilie? Möglicherweise. Nurin berichtet von mangelnder Anwesenheitsmoral anderer Geflüchteter in Sprachkursen und von Vätern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken wollen. Für sie unvorstellbar. „Es ist unserer Pflicht, unsere Kinder gut großzuziehen. Deswegen sind wir hier.“

Nurin und Rami Ashi arbeiten zielgerichtet an ihrer Zukunft, auch in der Weihnachtszeit. Nurin würde gern in einem Kindergarten arbeiten, darin hat sie bereits Erfahrung. Nur fehlt das erforderliche Sprachzertifikat. Rami möchte wieder in einen technischen Beruf einsteigen. Sein Problem sind fehlende Zeugnisse, die er bei seinem Arbeitgeber in Syrien zurückgelassen hat. Der Staatsbetrieb hätte Rami sofort der Fluchtplanung verdächtigt, hätte er die Unterlagen eingefordert.

Die Fluchtgeschichte der Ashis ist abenteuerlich. Im August 2015 sind sie von Latakia in den Libanon geflüchtet, von dort über das Meer in die Türkei. Teuer wurde es an der Ägäis-Küste. Für die einstündige Überfahrt auf die griechische Insel Rhodos zahlte die Familie 7000 Euro. Für den Preis habe man ihnen eine sichere hochseetaugliche Yacht versprochen, sagt Nurin. Tatsächlich lag ein schlichtes Boot am Strand.

Über den Landweg sind die Ashis dann schnell nach Österreich gekommen und machten dort die Erfahrung des Abstiegs. Trotz genügend Geld in der Tasche und zwei Kindern wurde die Familie in Hotels und Pensionen abgewiesen. Ein Taxifahrer kassierte schließlich 500 Euro für die Fahrt an die deutsche Grenze. Nach dem Grenzübertritt wurden die vier registriert und nach Halberstadt überstellt. In Deutschland versprachen sich die Eltern gute Chancen auf Arbeit und ein neues Leben.

Sorgen macht sich Nurin Ashi heute um ihre noch in Syrien lebende Schwester. Seit die Fluchtroute nach Europa geschlossen und der Familiennachzug verhindert ist, besteht kaum noch Hoffnung auf ein Wiedersehen. Vergeblich hatte sie zudem versucht, ein Visum für Australien zu erhalten.

Nurin und Rami Ashi glauben nicht mehr an eine Rückkehr nach Syrien. Auch folgende Weihnachtsfeste werden sie wohl in Deutschland feiern.