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Fotografie Vionas Märchenwelt

Fotokünstlerlin Viona Ielegems hat Schloss Heinrichshorst bei Rogätz seine Seele wiedergegeben.

Von Kathrin Wöhler 07.04.2019, 01:01

Rogätz l In Viona Ielegems Reich wohnen die Märchen. Wenn Dornröschen heutzutage aus ihrem hundertjährigen Schlaf erwachen würde, dann wohl hier, im Schloss Heinrichshorst bei Rogätz. An seiner Pforte wachen zwei bronzene Hirsche, und wer es betreten will, sucht vergebens nach einer Klingel.

Es kostet einen Moment der Überwindung, die Glocke zu läuten. Wer macht schon gern Lärm mitten im Wald. Doch sie erfüllt ihren Zweck wie eh und je. An der Schlosstür erscheint eine Frau vom Typ erwachsenes Rotkäppchen – oder eher Fee. Unheimlich zart, mit langen, dunklen Haaren, Mädchengesicht. Zur entwaffnenden Schönheit gesellt sich eine geheimnisvolle Aura. So, als sei sie gerade aus einem verborgenen Zimmer gehuscht. Aus ihren Worten klingt sanft ein flämischer Akzent– sie stammt aus Belgien und lebt seit 2012 in Sachsen-Anhalt. „Was für ein schöner Frühlingstag. Kommen Sie, wir setzen uns in den Salon, dort sehen wir die Sonne.“

Und tatsächlich bewegt sich Viona Ielegems in den hohen Räumen des Jagdschlosses wie in einem Zuhause. Erlauben Sie diese Betonung, aber wer wohnt freiwillig mitten im Wald in einem Haus, das aus der Zeit gefallen ist? 1899 für einen Brauereibeisitzer erbaut, dunkelbraunes Holz an den Decken, am Boden, in den Möbeln, Figuren und Schnitzereien. Ausgestopfte Raben, Rüstungen – gruselt sich denn hier niemand? „Nein, das Haus hat eine Seele, aber keine Gespenster.“

Viona Ielegems lächelt nachsichtig, sie ist es gewohnt, sich zu erklären. „Aber bitte in Englisch, ich schaffe das noch nicht in Deutsch“, sagt die 37-Jährige entschuldigend und beginnt, von ihrer Suche zu erzählen. Schloss Heinrichshorst habe sie damals förmlich in sich hinein gesogen. „Ich glaube, es war mein Schicksal.“ Wenn auch nicht Liebe auf den ersten Blick. Ein Jahr lang hadern sie und ihr Mann. Sie bewohnen zu diesem Zeitpunkt ein Haus in der Nähe von Antwerpen. Ein Schloss leisten sich in Belgien nur die Reichsten. „Die Räume in Heinrichshorst waren groß, eigentlich zu groß, zu kaputt, und überall diese Insekten. Ich habe zum ersten Mal eine Hornisse gesehen – schlimm“, erinnert sich Viona Ielegems, ein leises Schauern in der Stimme.

Aber die Künstlerin fühlte sich hier angekommen: in vergangenen Zeiten, die sie seit ihrer Kindheit sucht. Sie wächst in Antwerpen auf, zwischen den Kunstwerken der alten Meister. Sie tanzt Ballett, hört klassische Musik, verliebt sich in das viktorianische Zeitalter mit seiner Üppigkeit und Pracht, dem verschwenderischen Prunkt. Sie liest viel, besucht Ausstellungen und entwickelt ihre eigene Ästhetik, geprägt von lebendigen Farben, Mythen, makellose Weiblichkeit und Schönheit. Weg vom strengen, klar strukturierten Leben ihrer Eltern, beide Lehrer. „Ich wollte meine eigene Welt finden.“

Viona Ielegems taucht in die dunkelromantische Szene ein, ohne jedoch in deren düstere, morbide Seite. Nur die Kleider faszinieren sie, bald näht sie ihre ersten eigenen Entwürfe. Models posieren damit in Märchenwelten, die Künstlerin inszeniert sie als perfekte Schönheiten. Sie studiert Fotografie. Für ihre erste Ausstellung wählt sie eine alte Kirche, macht für die Gäste pompöse Kostüme und je eine Flasche Champagner zur Bedingung. „Meine Bilder traten in den Hintergrund – es wurde eine rauschende, dekadente Party.“

An jenem Abend findet sie ihr Tor in die Vergangenheit. Wer die Künstlerin bis dahin für ein verträumt-verwöhntes Mädchen hielt, das gern eine Prinzessin wäre, durfte sich nun eines Besseren belehren lassen.

Viona Ielegems trifft einen Nerv. In Belgien, Frankreich und Deutschland organisiert sie Kostüm- und Vampirbälle, bis in die USA eilt ihr Ruf. Schlossbesitzer fragen sie an, Eventagenturen, Kostümbildner. Frauen wollen von ihr Kleider genäht oder als Braut fotografiert werden. „Ich kann die Schönheit der Menschen zeigen, jeder besitzt sie. Die moderne Modefotografie macht perfekte Mädchen hässlich – das verstehe ich nicht. Schönheit ist real, kein Produkt der Bildbearbeitung.“

Doch zunehmend entgleitet der Künstlerin der Zauber ihrer Welt. „Die Menschen haben sich alles gekauft. Meine Welt und meine Ideen. Sie nahmen mich regelrecht in Besitz. Ich konnte das nicht mehr aushalten.“ Die Maskenbälle, Partys mit Vampiren und Picknicke in feinen viktorianischen Roben werden seltener. Übrig bleiben die „English High Tea“, einer Tradition des Britischen Empire, zu denen sie gelegentlich ins Schloss lädt. Dann lässt sie die Romantik des 19. Jahrhundert aufleben, deckt den 30-Mann-Esstisch im Speisezimmer mit einer dunkelroten Samtdecke, Rosen und dem goldenen Geschirr ihrer Großmutter ein. Tagelang arbeitet sie die Details aus, bereitet englisches Gebäck zu und kleine Häppchen zum Tee. Ihre Gäste empfängt sie in einem ihrer Traumkleider, die Haare kunstvoll gesteckt. Danach aber holt sie sich ihr Haus zurück.

Das Schloss im Wald wird ihr verstecktes Paradies. Sie zieht sich immer weiter zurück. Nur gelegentlich öffnen sie und ihr Mann das Gebäude zum Tag des Denkmals – so lernt sie den Präparator des Naturkundlichen Museums in Magdeburg kennen. Er nimmt sie mit in das Sammlungsdepot des Hauses. Wieder ist es der Blick in die Vergangenheit, der Viona Ielegems anzieht. „Ich wollte all diese Tiere ans Tageslicht zurückholen.“

Von Museumsleiter Dr. Hans Pellmann bekommt sie die Erlaubnis, Präparate für Fotoaufnahmen auszuwählen. Zwei Jahre durchforstet die Künstlerin Regale und Schubladen, experimentiert mit Licht, um Fell und Gefieder in besonderem Glanz zu hüllen. „Sie hat eine eigene Realität geschaffen“, sagt Pellmann, „sie verbindet Kunst und Naturkunde.“ 52 großformatige Tierporträts sind so entstanden.

In der Einsamkeit des Archivs findet Viona Ielegems zurück in ihre alte Welt. Nicht nur war die detailgetreue Abbildung von Tieren in Stillleben äußerst beliebt. „Im 18. Jahrhundert entstanden auch die sogenannten Wunderkammern, Vorgänger der heutigen naturkundlichen Museen“, erklärt Dr. Pellmann den Namen der Ausstellung. Darin stellten wohlsituierte Aristokraten und Händler Gesteine, Mineralien, Skelette oder exotische Früchte und Pflanzen aus, die sie von ihren Reisen mitbrachten.

Die Sammlerin in Viona Ielegems liebt diese Eigenart unserer Ahnen, mehr noch ist es aber die Bewahrerin in ihr. Denn einige der gezeigten Tiere haben längst ihren Lebensraum verloren, andere müssen um ihren fürchten. „Wie können Menschen davon sprechen, Wildschweine oder Füchse seien eine Seuche? Diese Tiere gehören doch hierher, es war einmal ihre Welt. Wir sollten uns nicht für etwas Besseres halten.“

Vielleicht, so hofft die Künstlerin, hinterlässt die tiefe Schönheit der fotografierten Waldbewohner so etwas wie Mitgefühl. „Wir müssen auf unsere Welt aufpassen, sonst bleibt bald nichts mehr von ihr übrig.“