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Friedensfahrt Engagement für legendäres Radrennen

Die Friedensfahrt feierte vor 70 Jahren ihre Geburtsstunde. In einem Museum in Kleinmühlingen lebt die "Tour de France des Ostens" fort.

Von Janette Beck 27.04.2018, 01:01

Kleinmühlingen l „Das gibt’s doch gar nicht, jetzt haben Sie mir meinen Einsatz vermasselt ...“ Horst Schäfers vorwurfsvolle Begrüßung fällt bildlich gesprochen aus dem (Fahrrad-)Rahmen. Hätte der Rentner das Klopfen an der blauen Tür nicht überhört, wäre nämlich Folgendes beim Betreten des Museums in Kleinmühlingen (Salzlandkreis) passiert: Schäfer hätte Haltung eingenommen, ehrfurchtsvoll die Taste an seinem alten Kassettenrekorder gedrückt und die Friedensfahrt-Fanfare wäre aus dem Lautsprecher geschmettert.

Diesen Moment, das erzählt der ansonsten recht ausgeschlafene Radsport-Fanatiker während einer geselligen Kaffee-Runde, kostet er stets in vollen Zügen aus: „Mit dem Erklingen der Fanfare werden sofort Erinnerungen wach.“ An die mitreißenden Radio-Reportagen. An die Millionen Zuschauer, die damals die Strecken säumten. An die grandiosen Siege von Schur, Vesely, Ampler & Co. „Ich bekomme jedes Mal wieder eine Gänsehaut, wenn ich die Fanfare höre. Und vielen, die zu uns ins Museum kommen, geht es ähnlich. Nicht selten haben sie in diesem Moment Tränen in den Augen“, sagt Horst Schäfer.

Es war einmal: Bis zu 2500 Besucher tauchen jährlich in dem Privat-Museum in die ereignisreiche Geschichte der Friedensfahrt ein, berichtet Horst Schäfer nicht ohne Stolz. Zu recht. Denn das, was er und die vielen rührigen Helfer an seiner Seite hier buchstäblich aus dem Boden gestampft haben, ist wirklich beeindruckend und aller Ehren wert. Aber ohne die Eigenleistungen im Wert von insgesamt 100.000 Euro, die angefangen vom damals arbeitslosen Museums-Initiator, über den Architekten bis hin zum Dachdecker oder Maler beigesteuert haben, gäbe es diesen Ort der Erinnerungen auch nicht.

Jeder einzelne Ziegelstein, der nach der Grundsteinlegung 2005 in die Hand genommen und auf Schäfers Grundstück in ein 250.000-Euro-Objekt verbaut wurde, atmet Friedensfahrt. Pure Radsport-Nostalgie auf 230 Quadratmetern. Und die weiße Taube auf dem blauen Grund, das Symbol der „Tour de France des Ostens“, ist auf zwei Etagen allgegenwärtig. 10.000 Exponate – von der Briefmarke über Wimpel, Pokale, Trikots bis hin zu Rennrädern – zeugen an diesem Ort von der Geschichte einer Legende. Einem Rennen, das 58 Auflagen erlebte, an dem Tausende Radamateure aus insgesamt 54 Ländern teilnahmen. Hier lebt das Etappenrennen wieder auf, das unzertrennlich verbunden ist mit der Steilen Wand von Meerane, die mit 12 Prozent Steigung oft zum sportlichen Scharfrichter der Friedensfahrt wurde und die die Außenfassade des Museums ziert.

Um die Erinnerungen an all das zu bewahren, haben sich der Museumsleiter und seine Mitstreiter im wahrsten Sinne des Wortes abgestrampelt. Mit Erfolg: Im 2007 eröffneten Museum befinden und sich, über Spenden finanziert, inzwischen unzählige Raritäten. Einige sind nur geliehen, die meisten geschenkt. Das gelbe Friedensfahrt-Siegertrikot von „Täve“ Schur zum Beispiel, das eher wie ein Feinstrickpulli aussieht. Aber auch das Diamant-Rad aus dem Jahr 1937, auf dem der Hallenser Edgar Schatz 1950 erster DDR-Straßenmeister wurde. Oder die legendäre „Zeitfahrmaschine“ von Olaf Ludwig aus dem Jahre 1980 sowie zwei Ergometer, auf denen Jan Ullrich als Jugendlicher in Rostock trainierte. Und nicht zu vergessen das Akkordeon, das Detlef Zabel 1955 nach der Friedensfahrt erhielt.

Zu Schäfers liebevoll gehegten Lieblingsstücken gehört zweifellos ein riesiger Seesack: „Der steckt voll mit Liebesbriefen, Autogrammwünschen und Heiratsanträgen, die „Täve“ Schur im Laufe seiner Karriere erhielt“, beteuert der Sammler mit schelmischem Grinsen. Von unschätzbarem Wert sind aber auch die vielen kleinen Geschichten, die der studierte Landwirt über die Friedensfahrt zu erzählen weiß. Die meisten stammen aus erster Hand, denn Horst Schäfer hat viele seiner Idole inzwischen persönlich kennengelernt.

Und so weiß er auch lebhaft vom „Eklat“ bei der Friedensfahrt 1960 zu berichten, als der DDR-Fahrer Manfred Weißleder nach der Etappe in Posen mit einer Luftpumpe auf den sowjetischen Fahrer Juri Melichow losging. „Weißleder war in dem Moment die hochgehaltene deutsch-sowjetische Freundschaft ziemlich schnuppe. Er verfolgte Melichow bis in die Weitsprunggrube und verwackelte ihn dort dafür, dass er beim Zielsprint ihn, in Führung liegend, am Sattel festgehalten und so die Etappe gewonnen hatte.“

Und dann kommt Schäfer auf den Mann zu sprechen, der dafür verantwortlich ist, dass das Herz der „Tour de France des Ostens“ trotz des Todesstoßes 2006 in einem verschlafenen Dörfchen weiterschlägt: Tarek Abu Al Dahab. Der Libanese hatte Anfang der 1960er Jahre als einziger Fahrer seines Landes an der Friedensfahrt teilgenommen: „Mit Tarek hat alles angefangen. Er war mein großes Idol. Seine Geschichte hat mich fasziniert, mit ihm habe ich als Neunjähriger Steppke mitgefiebert. Er hat in mir die Leidenschaft für die Friedensfahrt geweckt.“

Bis heute hält ihn dieser Zauber gefangen. Für den Kleinmühlinger war, ist und bleibt die Friedensfahrt ein einzigartiger sportlicher Wettstreit im Zeichen der Völkerfreundschaft und des Friedens: „Es war eine fantastische Zeit, die viele Radsport-Legenden hervorgebracht hat, und in der es großartige Erfolge zu feiern gab. Deshalb sind sich auch all jene, die diese Ära hautnah miterlebt oder sogar geprägt haben, einig, dass die Friedensfahrt nicht in Vergessenheit geraten darf.“

Und so freut sich Schäfer, dass er am 10. Mai wieder die Taste seines alten Kassettenrekorders drücken kann. Dann hoffentlich zur Begrüßung ganz besonderer Gäste: Zur 70-Jahr-Feier am 10. Mai (15 Uhr) hat der Verein „Radfreizeit, Radsportgeschichte und Friedensfahrt“, in dessen Trägerschaft sich das Museum befindet, weder Kosten noch Mühen gescheut und neben Abu Al Dahab auch die Friedensfahrtsieger von 1958 (Piet Damen/Niederlande), 1968 (Axel Peschel/Deutschland), 1978 (Alexander Averin/Aserbaidschan) und 1988/1998 (Uwe Ampler/Deutschland) nach Kleinmühlingen eingeladen. Und eines ist sicher: Egal, wer letztlich durch die Tür kommt, seinen Einsatz wird Horst Schäfer diesmal ganz gewiss nicht verpassen.