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Gedenken Gestrandet auf dem Weg in den Tod

Ein Wunder vor 75 Jahren: Ein Zug mit 2500 Juden strandete auf dem Weg ins Konzentrationslager Theresienstadt bei Wolmirstedt.

Von Gudrun Billowie 14.04.2020, 01:01

Wolmirstedt l Peter Lantos erlebte seinen fünften Geburtstag im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Kurz darauf, am 8. April 1945, wurde er zusammen mit seiner Mutter und 2500 weiteren ungarischen, polnischen, slowakischen, argentinischen und griechischen Juden in einen Zug gepfercht. Das Lager sollte geräumt werden, denn die britischen und amerikanischen Truppen rückten näher. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ziel: Konzentrationslager Theresienstadt.

Dort jedoch kamen Peter Lantos und die anderen Zuginsassen nie an. Am 12. April blieb der Zug kurz vor Magdeburg, in einem Waldstück in Farsleben, stehen, dort, wo die Baumkronen einen natürlichen Schutz vor Fliegerangriffen boten. Was dann geschah, ist so überliefert: Der Heizer habe die Lok abgekoppelt, jemand sei damit Richtung Magdeburg verschwunden. Die Wachmannschaft suchte vor den heranrückenden Amerikanern das Weite. Gegen Mittag des 13. April 1945 erschienen tatsächlich zwei amerikanische Aufklärungspanzer. Hoffnung keimte auf, die Menschen wagten sich aus dem Zug. Auch Peter Lantos und seine Mutter.

Die Retter sahen ausgemergelte, erschöpfte und kranke Menschen. Und Schlimmeres. Nicht für alle geriet dieser 13. April 1945 zum ersten Tag eines neuen Lebens. Viele Zuginsassen waren unterwegs an Hunger, Erschöpfung und Typhus gestorben. In den Wochen nach der Befreiung sollen 200 weitere Menschen an Entkräftung und Krankheiten gestorben sein. Viele sind in Farsleben und im 15 Kilometer entfernten Hillersleben begraben, andere wurden vermutlich gleich neben den Gleisen beerdigt.

Peter Lantos, seine Mutter und weitere Zuginsassen wurden in eine Kaserne nach Hillersleben gebracht und dort mehrere Wochen von Amerikanern und Einheimischen versorgt. Andere blieben in Farsleben, bevor sie in ihre Heimatländer zurückkehrten oder an anderen Orten der Welt ein neues Leben begannen.

Mit Peter Lantos sollen etwa 500 Kinder im Zug gewesen sein, deshalb gibt es immer noch Überlebende. Viele kehren immer wieder an den Ort der Befreiung zurück, manchmal auch ihre Angehörigen und Nachkommen. Zum 75. Jahrestag der Befreiung sollte es eine gemeinsame Gedenkfeier geben, im Farsleber Kulturverein „Webers Hof“, der damals als Lazarett diente. Die Gedenkfeier musste wegen der Corona-Krise abgesagt werden.

„Es tut mir unglaublich leid“, schreibt Peter Lantos, „nicht wegen mir selbst, obwohl ich mich mit großer Erwartung darauf vorbereitet habe, sondern für die Organisatoren, die diese Veranstaltung mit großem Enthusiasmus vorbereitet haben.“

Die Organisatoren, das sind die Mitglieder des Vereins „Gestrandeter Zug“. Unter anderem gehört die Wolmirstedter Museumsleiterin Anette Pilz dazu, Vereinsvorsitzende ist Karin Petersen. Die Geschichtslehrerin des Wolmirstedter Kurfürst-Joachim-Friedrich-Gymnasiums war wie elektrisiert, als sie von der Geschichte dieses Zuges erfuhr, sie wollte sie ans Licht holen.

Es gab zuvor bereits Menschen, die dazu recherchiert und Überlebende an die Stelle am Bahndamm und auf die Friedhöfe geführt haben. Trotzdem war das Thema aus dem öffentlichen Bewusstsein beinahe getilgt. „Die Geschichte lag quasi vor der Haustür“, sagt Karin Petersen, „und ich hätte mich geschämt, wenn es dieses Jubiläum im April 2020 bei uns nicht gegeben hätte“.

Der Verein „Gestrandeter Zug“ wurde vor gut einem Jahr gegründet, eine gleichnamige Arbeitsgruppe am Gymnasium ins Leben gerufen. Karin Petersen und die anderen haben Kontakt zu Überlebenden gesucht, Schicksale ausfindig gemacht. „Es war schön zu erfahren, dass tatsächlich noch Menschen leben, die damals im Zug gesessen haben und auch ein so großes Interesse zeigen, darüber zu sprechen.“ Einige wurden im vergangenen Jahr nach Wolmirstedt eingeladen.

Peter Lantos gehörte zu denen, die diese Einladung angenommen haben. Im Mai vergangenen Jahres reiste er aus London nach Wolmirstedt und las im Gymnasium aus seiner Autobiografie „Von Ungarn nach Bergen-Belsen und zurück.“ Die Zuhörer erfuhren, dass er mit seinen Eltern aus Ungarn zunächst in mehrere Ghettos, schließlich nach Bergen-Belsen deportiert worden war, dass dort sein Vater gestorben ist.

Peter Lantos suchte auch die Stelle an den Farsleber Gleisen auf, wie so viele Überlebende vor ihm. Auch deshalb wurde es für den Verein „Gestrandeter Zug“ immer wichtiger, an dieser Stelle einen Gedenkstein zu errichten.

Die Idee dazu war nicht neu. Schon vor Jahren hatte der Holländer Ron Chaulet in den Niederlanden eine Stiftung ins Leben gerufen, die Spenden für einen Gedenkstein in Farsleben sammelt. Was den Holländer zu einem Gedenkstein in Farsleben antreibt, taugt als Romanvorlage, hat sich aber tatsächlich so zugetragen:

Ron Chaulet hatte 2008 ein Buch ersteigert und fand darin einen alten Brief, in dem auch die Ereignisse in Farsleben beschrieben waren. Diesen Brief hatte Gina Rappaport geschrieben, eine polnische Jüdin, die ebenfalls im besagten Zug nach Theresienstadt deportiert werden sollte. Sie war damals 24 Jahre alt und übersetzte nach der Befreiung für die Amerikaner. Einem von ihnen schrieb sie später, dem Panzerkommandanten George Gross. Er war auch der Fotograf der Bilder, die noch heute von den Ereignissen im April 1945 erzählen. Ron Chaulet gelang es, Gina Rappaport und George Gross kurz vor ihrem Tod noch einmal zusammenzuführen.

Der Stein ist inzwischen in Arbeit. Der Colbitzer Steinmetz Hartmut Kositzki wird in Deutsch, Englisch und Hebräisch „Befreiung, 13. April 1945“ hineingravieren. Einen Großteil des Geldes hat der Verein „Gestrandeter Zug“ mit Hilfe vieler Aktionen gesammelt. Eigentlich sollte er am 17. April feierlich an den Gleisen enthüllt werden, gut zwanzig Überlebende und ihre Familien hatten sich angekündigt, Musical-Star Ute Lemper wollte singen, außerdem Omri Vitis, dessen Großmutter damals im Zug saß.

Auch Peter Lantos hatte seinen Flug schon gebucht, seine Rede geschrieben. Er wollte von seinen persönlichen Erfahrungen sprechen, davon, wie es war, als fünfjähriges Kind mit der Mutter im Zug zu sein, von der Freude über die Befreiung durch die Amerikaner, über das Leben danach in Hillersleben und die Rückkehr nach Ungarn.

„Was ich von der Reise von Hillersleben nach Ungarn über Prag in Erinnerung habe, ist eine Mischung meiner eigenen Erinnerung und der Geschichte, die meine Mutter mir erzählte“, schreibt er in einer E-Mail, „ich erinnere mich jedoch an die Aufregung der Reise mit dem Zug, in Prag anzukommen und für Brot und Milch am Bahnhof in der Schlange zu stehen. Das dramatischste Bild, an das ich mich erinnere, war, im Haus unserer Familie anzukommen und es komplett leer vorzufinden, mit Ausnahme der Ölportraits meiner Großmutter und meines Großvaters. Alles andere war gestohlen worden.“

Peter Lantos ist nicht in Ungarn geblieben, lebt seit 1968 in London. Andere ehemalige Zuginsassen siedelten in die USA oder nach Israel. Peter Lantos ist inzwischen 80 Jahre alt, hat sein Berufsleben der Wissenschaft gewidmet, war Professor für Neurowissenschaften.

Die Ereignisse haben sein Leben geprägt, die Zeit im Konzentrationslager und danach haben seinen Weg mitgezeichnet. „Ich spüre, dass meine Zeit in Bergen-Belsen mir Stärke und Entschlossenheit gegeben hat zu versuchen, die Menschheit zu verstehen. Das ist der Grund, warum ich Arzt geworden bin.“

Nun hofft Peter Lantos, dass die Gedenkfeier im nächsten Jahr nachgeholt werden kann. Für sich selbst wünscht er sich: „Noch ein bisschen länger zu leben...“