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Genscher Ein Hallenser von Weltrang

Mit dem bekennenden Sachsen-Anhalter Hans-Dietrich Genscher verliert die Bundesrepublik einen ihrer populärsten Politiker.

Von Steffen Honig 02.04.2016, 01:01

Halle l Hallensisch gehört gewiss nicht zu den klingendsten heimischen Dialekten. Dass dieses Idiom dennoch in ganz Deutschland salonfähig wurde, ist dem in Reideburg bei Halle geborenen Hans-Dietrich Genscher zu danken, der 18 Jahre lang als die personifizierte deutsche Außenpolitik galt. Das bleibt unvergessen – in Sachsen-Anhalt, der Bundesrepublik, Europa und der Welt.

Liberale Politik hat ihn fasziniert, so wie er sie später selbst prägt. Nach dem Krieg studiert er in der DDR Rechtswissenschaften. Doch das diktatorische Rechts- und Gesellschaftssystem der DDR ist ihm zuwider, er geht nach Westdeutschland und tritt der FDP bei.

Die entscheidende Wegmarke wird für Genscher der bis dahin größte Umbruch in der Bundesrepublik: 1969 wird er Innenminister in der ersten SPD-FDP-Koalition unter Kanzler Willy Brandt, nach dessen Rücktritt dann Außenminister im von Helmut Schmidt geführten Kabinett. Die neue Ostpolitik, das Markenzeichen der sozialliberalen Ära, entspricht seiner tiefen Überzeugung.

Denn im Herzen ist Genscher immer ein Hallenser, ein Sachsen-Anhalter, geblieben. Und die Hallenser haben ihn stets als einen der ihren betrachtet. Noch mehr, seit er DDR-Flüchtlingen in Prag 1989 unter ohrenbetäubendem Jubel ihre Ausreise verkündigte. Der Auftritt findet Eingang in die Weltgeschichte. Für den damaligen Außenminister ist es der größte Moment in seinem politischen Leben, wie er später gerührt bekennt.

Die Populariät des schlitzohigen FDP-Chefs mit dem gelben Pullunder unter dem Jackett ist auf ihrem Höhepunkt. Als das Satireblatt „Titanic“ nach Vorbild des Weltretters Batman den „Genschman“ kreiert, hat der Außenminister seinen endgültigen Spitznamen weg. In Halle – wo sonst – gibt es ein Restaurant mit Namen „Genschman“.

Der Genscher-Bonus verhilft der FDP nach der Wende zu einem Höhenflug: Bei der ersten Landtagswahl 1990 erreicht die FDP in einem der Hallenser Wahlkreise den Spitzenwert von 22,4 Prozent. Bei der Bundestagswahl schaffen die Liberalen mit 19,7 Prozent das beste Ergebnis in einem Bundesland. Uwe Lühr erringt für die FDP in Halle gar das erste Direktmandat seit 1961. In den Niederungen der Nachwende-Realität gingen die liberalen Wahlergebnisse bald auf Talfahrt. Genscher nahm das nie kampflos hin: Er blieb der Pate seines Landesverbandes, der es schließlich wieder in die Regierungsverantwortung schafft.

Der liberale Stratege gehört zu den Politikern, ein Niedrigsteuergebiet für die neuen Bundesländer vorzuschlagen. Der Ansatz war so falsch nicht: Alle wichtigen Steuern sollten auf 75 bis 80 Prozent des Westniveaus heruntergesetzt werden. Das hätte den Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft unter Marktbedingungen zumindest abdämpfen können. Der Vorstoß scheitert.

Für den mit allen politischen Wassern gewaschenen Genscher nur ein Dämpfer. Er hat ganze Niederlagen verkraftet. Als neun israelische Geiseln beim Olympia-Attentat sterben, gerät er als Innenminister schwer unter Druck. Als die FDP von der SPD zur CDU überläuft, wird er als Verräter beschimpft.

Im Verhältnis zu seinen außenpolitischen Erfolgen sind das lässliche Verfehlungen. Unter den deutschen Nachkriegspolitikern reiht sich Hans-Dietrich Genscher ganz vorn mit ein. Als ein Mann, der den Ausgleich jeder kriegerischen Auseinandersetzung vorgezogen hat.