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Geschichte Weihnachten mit Wurst vom Dromedar

Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen. Magdeburger Familien freuten sich über die Heimkehrer, hatten aber kaum etwas zu essen.

Von Manfred Zander 26.12.2018, 00:01

Magdeburg l „Ein froheres Weihnachten als sonst, ein ernsteres Weihnachten zugleich und - ein christlicheres Weihnachten als ehedem feiern wir wohl diesmal“, verkündete Pastor Hentze von St. Jakobi am ersten Feiertag im Leitartikel des Magdeburger General-Anzeigers. Froher, weil die Waffen schweigen, ernster, wegen der Wirrnisse der Zeit und christlicher, weil der Stern von Betlehem Hoffnung gebe.

Redakteur Kattentidt hat das ein paar Seiten weiter in Verse gefasst: „Ruhmvoller Endsieg nicht beschert / war unsres Volkes Heldenschwert ... / Da flammt ein Stern am Himmelsdach / und kündet, daß der heil‘ge Christ / in dieser Nacht geboren ist. / Der als Erlöser kam der Welt. / Und Hoffnung neu die Seele schwellt. / Er wird nicht leiden, daß zerstört / wird ganz, was wir so lang geehrt.“

Am 13. Dezember hatten die Magdeburger Zeitungen die Termine für die Weihnachtsbescherungen der Kriegerwaisen veröffentlicht. Die Zahl der von der Stadt  Magdeburg zu betreuenden Waisen „ist auch in diesem Jahr sehr hoch“, hatte das Wohlfahrtsamt um Spenden gebeten. Den Bescherungsauftakt bildete am 18. Dezember eine Feier im Gemeindehaus von St. Jakobi in der Blauebeilstraße.

In der Nachbarschaft des Jakobigemeindehauses betrieb Fleischermeister Trütschler eine Pferdefleischhandlung. Täglich bildete sich dort eine lange Schlange wartender Hausfrauen. Einen Tag vor dem zweiten Adventssonntag hatte sich ein etwa zehn Jahre alter Junge in die Schlange eingereiht. „Barfuß und nur mit einem dünnen kittelähnlichen Stück Zeug behängt, machte er so einen erbärmlichen Eindruck, daß er bei den ... Frauen Interesse erweckte“, hieß es später in der Volksstimme. Schließlich erzählte der Junge, dass er sieben Geschwister habe, die Mutter krank sei und der Vater verwundet im Lazarett liegen würde. Die Frauen waren gerührt und sammelten Geld. 14,30 Mark kamen zusammen, die der Junge sofort zu seiner Mutter trug.

Allerdings öffneten sich auch in der Adventszeit 1918 nicht überall die Herzen für fremde Not. Die Volksstimme berichtete, dass bei einem in der Kaiserstraße lebenden Ehepaar ein Offizier und ein Soldat einquartiert werden sollten. Sie hatten beide einen zwölftägigen Fußmarsch hinter sich und suchten nun nur einen trockenen Raum, um sich vor ihrem Weitermarsch in die Heimat auszuruhen.

Das anhanglose Ehepaar lehnte ab, da es keinen Platz in seiner Wohnung hätte. Der abgewiesene Offizier beklagte sich beim Generalkommando der Garnison. Ein Vetreter des Soldatenrats kündigte den Wohnungsinhabern daraufhin an, ihnen bei weiterer Weigerung sieben Zimmer ihrer Zehn-Zimmer-Wohnung mit durchreisenden Soldaten zu belegen. Durch die verkehrsgünstige Lage war Magdeburg nicht nur Zielort, sondern auch Durchgangsstation heimkehrender Frontsoldaten. Das stellte die Stadt vor Probleme. „Trotz aller gegebenen Vorschriften kommt es vor, daß heimkehrende Krieger ohne vorherige Entlausung zu ihren Familien ... kommen“, warnte der Soldatenrat Magdeburgs in den Zeitungen. Daraus erwachse eine Gefahr für die Allgemeinheit, wie etwa die Verbreitung von Flecktyphus. Um das zu verhindern, wurden in der Stadt zwei Entlausungsanstalten an der Wallstraße und in der Harsdorfer Straße geschaffen. Mehrere Volksbadeanstalten richteten zudem spezielle Badezeiten für Militärangehörige ein.

Vom Reichsamt für die Demobilmachung war bereits zu Beginn des Rückzuges angeordnet worden, dass Angehörige des Heeres und der Marine vor Bezug eines Quartiers eine Bescheinigung vorzulegen hätten, dass „sie von Ungeziefer und übertragbaren Krankheiten frei sind“.

Aber welche Mutter oder welche Ehefrau fragte wohl nach diesem Schein, wenn Sohn oder Ehemann heimgekehrt sind und plötzlich vor der Wohnungstür stehen?

Je näher das Weihnachtsfest rückte, je häufiger fanden sich im Anzeigenteil der Zeitungen solche Inserate wie am 1. Dezember in der Volksstimme: „Aus dem Felde zurück. Erteile ab heute wieder Unterricht. Schmiedel, Musiklehrer, Hohepfortestraße 48.“ Auch Dr. Blencke, „Spezialarzt für orthopädische Chirurgie“, gab die Wiedereröffnung seiner Praxis in der Königstraße 69 bekannt. Ebenso Masseur Gustav Schulze aus der Hohepfortestraße 50, Töpfermeister Fritz Lehmann, aus der Georgenstraße 4, Sanitätsrat Dr. Bühring und Dr. Silberstein, Malermeister Arno Gössel und Fleischermeister Alwin Ronniky.

Noch standen gleich neben solchen Inseraten die schwarzumrandeten und mit dem Eisernen Kreuz geschmückten Todesanzeigen. Es war bitter, zu Weihnachten noch den Verlust eines Angehörigen erleben zu müssen.

Manchmal traf die Todesnachricht in die Vorfreude auf das Wiedersehen, wie im Fall von Karl Haase aus Magdeburg. „Anstatt froher Heimkehr traf uns die unfaßbare Nachricht, daß unser innigstgeliebter, lebensfroher Junge, unser unvergeßlicher Bruder, Schwager und Onkel ... im blühenden Alter von 24 Jahren auf dem Rückzug in die Heimat schwer erkrankt und im Lazarett in Hamborn an Lungenentzündung gestorben ist“, teilte die Familie des Kanoniers mit, der den Krieg von Anfang an durchgemacht und überstanden hatte.

Wer heil zurückkehrte, bescherte seiner Familie gewiss das wichtigste Geschenk zu Weihnachten. Das dürfte vielfach so gewesen sein, als am 24. Dezember, wenige Stunden vor dem Heiligen Abend, das Infanterieregiment 66 wieder in seine Garnisonsstadt einrückte.

„Unter unsäglichen Mühen“, schrieb der Magdeburger General-Anzeiger, „haben die 66er den ganzen Rückmarsch von der Front bis hierher zu Fuß zurückgelegt ... Heute morgen ... marschierte das durch viele Entlassungen schon stark zusammengeschmolzene Regiment ... durch die festlich geschmückten Straßen der Sudenburg, von einer froh bewegten Menge begleitet“. Um 12 Uhr sei der Hasselbachplatz erreicht worden, begleitet von der Kapelle unter Leitung des Musikmeisters Breckau.

„Mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen“ sei es den Breiten Weg entlang gegangen. Die Soldaten seien mit Blumen und Liebesgaben überschüttet worden. Auf dem Schroteplatz wurden die Heimkehrer von Vertretern der Stadt und der Garnison empfangen. „Die alte Heilsbotschaft ,Friede auf Erden‘ begrüßt Sie“, rief Stadtrat Hermann Beims den Soldaten im Auftrag des Arbeiter- und Soldatenrates zu. „Die ganze Stadt Magdeburg heißt sie willkommen.“ Bereits am Tag zuvor war das 26. Infanterieregiment auf dem Domplatz ebenso herzlich empfangen worden.

Die kleinsten Magdeburger hatten andere Gedanken. Seit langem drückten sie sich die Nase an den Schaufenstern der Warenhäuser platt. Bei Wittkowski am Breitenweg 61 gab es eine Spezialgliederpuppe für 9,50 Mark, eine Trommel für 95 Pfennig und „extra starke“ Autos für 95 Pfennig. Ebenso viel kosteten Blechsoldaten oder ein Gewehr mit Korkgeschoss. Tiefer in die Tasche greifen musste man für einen Puppenwagen oder für eine Aufzieh-Eisenbahn.

Wer von den Kindern Glück hatte, durfte die Spielwarenausstellung im dritten Stock bei Barasch bewundern. Bei Heinrichshofen am Breitenweg war das Buch „Peterchens Mondfahrt“ von Gerdt von Bassewitz heiß begehrt. Wohl auch, weil das Weihnachtsmärchen am Stadttheater ebenfalls über die Mondreise von Peter, Anneliese und dem Maikäfer Herrn Sumsemann erzählte.

Die weihnachtlichen Tafelfreuden blieben meist bescheiden. Als „Wettlauf mit dem Tode“ hatte die Volksstimme am 1. Dezember den Kampf ums tägliche Brot genannt. Es gab Lichtblicke. In Magdeburg hatte Zirkus Krone während seines Gastspiels im November ein Dromedar an die Wurstfabrik von Carl Meusel verkauft. Das war geschlachtet und zu Knoblauch- und Leberwurst verarbeitet worden. „Das Fleisch wurde tierärztlicherseits als gleichwertig mit Rindfleisch erklärt“, warb Meusel für den Verkauf der „Wurst vom Kamel“.

Nicht überall wurde gehungert. Eine Hausdurchsuchung in der Schönebecker Kartoffelhandlung Becher förderte unter anderem 18 Kilo Rindfleisch zutage, die bei einem Magdeburger Rittmeister drei Pferde, 30 lebende Hühner, reichlich Speck und Fleisch. Manchmal mussten die beschlagnahmten Waren zurückgegeben werden, weil sie rechtmäßig eingelagert wordenwaren. Es war die hohe Zeit für Denunzianten. Täglich würden beim Arbeiter- und Soldatenrat anonyme Briefe eingehen, die auf widerrechtliches Zurückhalten von Nahrungsmitteln verweisen, teilte Anfang Dezember die Provinzial-Lebensmittelstelle mit. Künftig würden nur noch Anzeigen bearbeitet, die „volle Namens- und Wohnungsangabe“ enthalten.

Wer sich am ersten Weihnachtsfeiertag die Zeit nahm, die Volksstimme bis hinten durchzublättern, der stieß auf ein Inserat des Armee-Oberkommandos der noch im Baltikum stehenden 10. Armee. „Freiwillige für ... werden gebraucht“, heißt es da. „Jeder, der eine Waffe führen kann und gewillt ist, den ... Dienst hier draußen treu zu tun, wie es sich für den deutschen Soldaten von alters her gehört, ist willkommen“.