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Halle-Attentat Beifall für Überlebende

Am achten Prozesstag gegen den Halle-Attentäter haben Überlebende aus der Synagoge über ihre Ängste und Erlebnisse gesprochen.

Von Matthias Fricke 01.09.2020, 20:02

Magdeburg l Es ist gegen Mittag des 9. Oktober als der Mietwagen des Halle-Attentäters vor der Synagoge vorfährt. Er stellt das Fahrzeug zur Hälfte auf dem Gehweg ab. Er hat seine Schrotflinte im Anschlag, die Maschinenpistole hängt über der Schulter und in der Hand trägt er eine selbstgebaute Granate. Er wirft diese über die Mauer, schießt mit der Schrotflinte mehrfach auf die Tür. Sie hält zum Glück stand. Das alles können einige der Gläubigen in der Synagoge über die Überwachungskamera sehen.

Während des Angriffs hatten sich in der Synagoge zu diesem Zeitpunkt auch 52 Menschen befunden. 20 von ihnen waren im Rahmen des jüdischen Programmes „Base-Berlin“ nach Halle gekommen. Organisiert wurde es von einem jüdischen US-amerikanischen Ehepaar. Alle zusammen feierten den höchsten Feiertag Jom Kippur mit vier Gottesdiensten und zum Teil mehrstündigen Gebeten.

Der 32-jährige Roman R. ist an diesem Tag Vorbeter der Synagoge in Halle und wird unruhig, als er die Explosion hört. Er sieht das Auto des Attentäters und dann die Passantin Jana L., die durch mehrere Schüsse von hinten in den Rücken getroffen zusammensackt. Der Schock sitzt tief, aber instinktiv greifen sich die Männer um ihn herum Stühle, bauen Barrikaden. Ich habe nur gerufen: „Lauft, lauft!“

Die Frauen und Kinder schicken sie in den hinteren Teil der Synagoge. Als der Attentäter Stephan B. wieder im Bild mit seiner Kampfuniform mit Helm und Waffen auftaucht, weiß er, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. „Ich dachte es ist alles zu Ende. Jeder abgegebene Schuss war für mich wie ein Schuss in mein Herz“, sagt er.

Eine Zeugin sagt zu dieser Situation: „Bis dahin konnte ich mir einen Anschlag in Halle nicht vorstellen.“ Doch dann habe sie das Schwarzpulver gerochen. Am Schlimmsten waren die folgenden Minuten und Stunden der Ungewissheit.

Roman R. sagt: „Ich war weiß wie eine Wolke.“ Die Stimmung in der Synagoge beschreibt er so: „Es war keine Panik, aber es gab viele Fragen.“ Diese konnte niemand beantworten, auch die Polizei nicht. Als russische Medien von Geiseln und mehreren Tätern sprachen, wuchs aber die Beunruhigung.

Über seine Gefühle sagt er: „Das erste, was ich später dachte, ist, dass ich Deutschland verlasse und nach Israel gehe.“ Er meint, dass er sich ganz bewusst für das offene jüdische Leben entschieden habe. „Du willst jüdisch sein? Das ist dein Preis. Du kannst erschossen werden“, sagt er enttäuscht.

Doch was er einige Tage später in Halle erlebte, sei Balsam auf seiner Seele gewesen. Tausende Menschen versammelten sich vor der Synagoge. Im Gericht spricht der jüdische Vorbeter der Gemeinde den Angeklagten direkt an: „Ich will, dass Du weißt: Diese Straße, auf der Du langgelaufen bist, die war voller Menschen. Und die wenigsten darunter waren Juden. Alte, Junge, Erwachsene und Hallenser. Sie alle haben Schalom gesungen.“ Das habe für ihn dann den Ausschlag gegeben, doch in Deutschland zu bleiben. „In dem Moment wusste ich, dass ist mein Deutschland, dass ich kenne. Ich bleibe hier.“ Es folgt Beifall im Publikum und in den Reihen der Nebenkläger. Richterin Ursula Mertens lässt es gewähren. Eine 30-jährige Jüdin sagt: „Das einzige, worüber ich nicht hinwegkomme, dass zwei Menschen an meiner Stelle erschossen worden sind.“ Sie habe auch Stressbelastungen infolge des Anschlags gehabt.

Die 32-jährige US-Amerikanerin Molli S. sagt, dass ihr jedes Jahr an Jom Kippur der Großvater ein Gebet vorgelesen hat. Er war der einzige Holocaustüberlebende in ihrer Familie mit mehr als hundert Verwandten. Sie liest es auf Hebräisch vor und ergänzt dazu: „Er hat sich mit den Falschen angelegt, mit der falschen Familie und den falschen Menschen.“ Sie berichtet von einer posttraumatischen Belastungsstörung, die nach dem Attentat bei ihr diagnostiziert wurde. Diese habe sie inzwischen aber überwunden. „Nach dem heutigen Tag wird er mir keine Qualen mehr bereiten. Das endet hier und heute“, sagte die Frau. Es gibt lange Beifall.

Ein 33-jähriger Rabbi, der mit seiner Frau in Berlin lebt, kritisiert in seiner Aussage die Polizei für ihr fehlendes Einfühlungsvermögen. Er sagt: „Wir wurden eher wie Verdächtige behandelt, denn als Opfer.“ Der Geistliche betonte aber, dass er der Polizei keine schlechten Absichten unterstellen will. „Da ist aber viel Raum für Verbesserung“, sagte er.

Weitere Einzelheiten zum achten Prozesstag erfahren Sie in diesem Video von Videoredakteurin Samantha Günther. In dem sich unter anderem der Rechtsanwalt für Strafrecht Alexander Hoffmann äußert.