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Halle-AttentatJom Kippur mit gemischten Gefühlen

Bei Juden in Deutschland löste der Anschlag am höchsten Feiertag Jom Kippur tiefe Verunsicherung aus. Sie hält bis heute an.

28.09.2020, 02:10

Berlin/Halle/Düsseldorf (dpa) l Tiefe Spuren habe der Tag bei ihr hinterlassen. "Er hat das Fundament meines Glaubens wachgerüttelt", sagt Naomi Henkel-Gümbel. Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle ringt die angehende Rabbinerin mit den Worten, wenn sie an Jom Kippur denkt. Mit rund 50 Menschen feierte sie am 9. Oktober 2019 in der Synagoge das Versöhnungsfest, als ein Rechtsextremer versuchte, das Gebäude zu stürmen.

Wie durch ein Wunder wurde ein Massaker verhindert. In der Nähe des Gotteshauses erschoss der Attentäter zwei Menschen, eine 40 Jahre alte Frau und einen 20 Jahre alten Mann. Auf seiner Flucht verletzte er mindestens zwei Menschen schwer in einem Ort bei Halle, versetzte die Region in Angst.

Ihren höchsten Feiertag begehen die Juden in Deutschland in diesem Jahr – von Sonntag- bis Montagabend – deshalb mit gemischten Gefühlen. Auch Max Privorozki lassen die Ereignisse nicht los. "Es ist für mich unbegreiflich, wie ein Mensch so voller Hass sein kann", sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, die rund 530 Mitglieder hat. Wie Henkel-Gümbel ist Privorozki Nebenkläger im Prozess gegen den Attentäter Stephan Balliet.

Auch mehr als 400 Kilometer Luftlinie westlich von Halle wird Jom Kipppur mit zwiegespaltenen Empfindungen begangen. In Düsseldorf war die Synagoge vor 20 Jahren Ziel eines Anschlags. Am 2. Oktober 2000 waren Brandbomben gegen das Gebäude geschleudert worden. Ein 19-jähriger gebürtiger Jordanier wurde für die Tat wegen Sachbeschädigung zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt – auf Bewährung. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) rief nach dem Anschlag zu einem "Aufstand der Anständigen" auf, die Gewalt gegen Juden ging weiter.

"Wir alle nehmen wahr, dass der Antisemitismus wächst und mitten in der Gesellschaft zu finden ist", sagt Zeev Reichard von der Düsseldorfer Gemeinde. Allein 2019 wurden in Deutschland 2029 antisemitische Straftaten registriert, 13 Prozent mehr als im Vorjahr. Nach Aussage des BKA-Vizepräsidenten Jürgen Peter erzeugen sie ein "Klima der Angst", das die Demokratie in Gefahr bringt.

Auf einer Konferenz in Berlin über die Sicherheit von Synagogen zieht der Vize des Bundeskriminalamtes (BKA) eine ernüchternde Bilanz: Die Sicherheitslage jüdischer Einrichtungen sei besser als im vergangenen Jahr, aber nicht flächendeckend gut. "Wir können als Polizei nicht zufrieden sein mit dem "Status quo", den wir erleben", sagt er.

Poller, Zäune, Sicherheitsschleusen – sie gehören zum Alltag vor jüdischen Einrichtungen. Meistens stehen Polizisten vor den Gebäuden - manchmal aber nicht, wie vor der Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019. Für Naomi Henkel-Gümbel liegt der Fehler im System. Sie will auf der Tagung wissen, welche Lehren die Polizei aus dem Attentat von Halle zieht. Nur eine Holztür und Videokameras verhinderten das Blutbad im Tempel.

Man habe vor allem Lehren aus dem "Desaster NSU" gezogen, Ermittler seien heute offener für verschiedene Tat-Hypothesen, sagt BKA-Vize Peter. Das Amt baue seine Internet-Expertise aus und wolle in Zukunft genauer auf rechte Netzwerke blicken.

Der Journalist Ronen Steinke, Autor des Buches "Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt", sieht die Behörden in der Bringschuld. Die Gefahrenabwehr sei Aufgabe des Staates, der Polizei – und nicht der Gemeinden. Steinke, der durch Deutschland reiste und mit Gemeindefunktionären sowie Mitgliedern sprach, berichtet von hohen bürokratischen Hürden, wenn es darum geht, dass jüdische Einrichtungen mehr Sicherheit bekommen.

Immer wieder sei von Behörden zu hören, Banken oder Juweliere müssten schließlich auch für ihre Sicherheit aufkommen. Mit solchen Argumenten dürften sich die Juden nicht zufrieden geben, sagt Steinke - auch wenn sich die Gemeinden seit Jahren an den "Belagerungszustand" in ihren Einrichtungen gewöhnen müssten.

Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde in Berlin, spricht von einer guten Zusammenarbeit mit der Berliner Polizei. Auch Naomi Henkel-Gümbel fühlt sich in der Hauptstadt sicher. Doch eins lässt Königsberg keine Ruhe: der wachsende Antisemitismus bei den Anti-Corona-Demonstrationen, mit den Verschwörungstheorien und dem Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust.

Als an einem Samstag jüngst Demonstranten vor der Synagoge in der Oranienburger Straße vorbeiziehen wollten, schlug die Gemeinde Alarm. Es sei inakzeptabel, dass sich Demonstranten mit dem gelben "Judenstern" der Nazis als Opfer der Corona-Politik stilisierten und damit ausgerechnet am Schabbat vor der Synagoge marschierten. Erst nach Intervention der Gemeinde änderten die Behörden die Demonstrationsroute.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, sagt immer wieder, Deutschlands Juden säßen zwar nicht auf gepackten Koffern, sie wüssten aber, wo sie griffbereit seien. Ob sie an Weggehen denke? "Ich bleibe, gerade jetzt!", sagt Naomi Henkel-Gümbel.