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Halle-Prozess Wiedersdorfer durchleben Stunden der Angst

Die Bewohner aus Wiedersdorf beklagen am Magdeburger Landgericht im Prozess den „vergessenen“ Tatort.

Von Matthias Fricke 23.09.2020, 19:58

Magdeburg l Das Klopfen an seiner Hoftür in Wiedersdorf, einem Ortsteil von Landsberg im Saalekreis, wird sein Leben verändern. Als der 52-jährige Jens Z. öffnet, blickt er in den Lauf einer Pistole. Vor ihm steht der Attentäter von Halle. Stephan B. befindet sich zu diesem Zeitpunkt knapp 40 Minuten auf der Flucht. Er will ein anderes Auto, weil sein Golf zwei zerschossene Reifen hat.

Der Wiedersdorfer Jens Z. sagt am 15. Prozesstag am Magdeburger Landgericht: „Er forderte mehrmals die Autoschlüssel für unseren VW Polo, doch ich konnte sie ihm nicht geben.“ Jens Z. dreht sich dann um und will gehen. In diesem Moment gibt Stephan B. aus seiner selbstgebauten Einzellader-Pistole einen Schuss auf ihn ab. Die Kugel trifft seinen Nacken, verfehlt nur knapp die Wirbelsäule und bleibt in seinem Hals stecken. Seiner Lebensgefährtin Dagmar M. ruft er zu: „Bleib im Haus!“ Doch sie erfasst die Situation nicht rechtzeitig.

Die 51-Jährige: „Ich habe nur ein Geräusch gehört und dachte, er hat sich etwas beim Sägen des Feuerholzes getan. Jens kam mir mit blutendem Hals entgegen.“ Dann sei sie plötzlich nach vorne gestürzt. „Ich wusste erst nicht warum, bis sich der Angeklagte über mich gebeugt hat. Er verlangte immer wieder die Autoschlüssel“, sagt die Frau. Dass auch sie angeschossen worden ist, bemerkt sie erst später. Irgendetwas grummelt der Angreifer noch. Dann verschwindet er. Im Prozess sagt sie in Richtung des Angeklagten: „Er hat herumgejammert wie ein Muttersöhnchen, ein Weichei.“ Dabei habe sich Stephan B. immer wieder an seine eigene Schusswunde gefasst.

Als sie den Notruf wählt, sei sie zunächst nicht ernst genommen worden. „Ich musste zwanzig Mal meinen Namen sagen und es wurde erst reagiert, als mein Nachbar dazu kam.“ Die Polizei habe sehr lange gebraucht. Nur ein Beamter taucht anfangs auf. Sie selbst ist an der Hüfte getroffen worden. Beide bleiben nach einer Operation zehn Tage im Krankenhaus und müssen bis heute therapeutisch behandelt werden. Sie sind nach wie vor arbeitsunfähig.

Nur 200 Meter neben dem Haus des Paares befindet sich die Werkstatt von Kai H. Hier lassen gerade der Taxiunternehmer Daniel W. und sein Bruder Christian die Reifen wechseln. Auch der Chef der Werkstatt steht daneben.

Der Attentäter soll in diesem Moment mit vorgehaltener Pistole gesagt haben: „Ich bin ein gesuchter Schwerverbrecher und habe da drüben gerade zwei Leute erschossen. Ich will das nicht auch bei euch machen.“ Der 41-jährige Taxiunternehmer gibt die Schlüssel für den Wagen heraus, der eine Funkortung hat. Stephan B. wirft den Taxifahrern zweimal 50 Euro vor die Füße und verschwindet. Daniel W. nimmt im sicheren Abstand die Verfolgung auf. In Wiedemar sieht er eine Polizeistreife. Das geraubte Taxi lassen die Beamten passieren. Daniel W. stoppt und erzählt den Beamten alles. Diese sagen, sie müssten wegen des Attentats als Posten vor Ort bleiben. Weder Daniel W. weiß etwas von dem Geschehen in Halle, noch die Beamten etwas vom Fahrzeugwechsel in Wiedersdorf. Dann kommt dem Taxifahrer die Idee, bei Mercedes anzurufen und den Notfall-Standort des Wagens abzufragen. Der Mitarbeiter dort sagt: „Da müssen sie aber erst kommen und die Datenschutz­erklärung unterschreiben.“ Kurze Zeit später erhält er dann aber doch den Standort des Taxis.

Wiedersdorf ist indes im Ausnahmezustand. „Schwerbewaffnete Polizisten, ein Panzerwagen und Hubschrauber waren den ganzen Tag lang da und wir wussten von nichts“, erinnert sich Anwohnerin Klaudia Wannags. Der Ort mit rund 70 Einwohnern wird am Abend wegen des im Auto gefundenen Sprengstoffs evakuiert. Erst am Morgen wagt sich der erste Anwohner zurück und informiert die anderen. Eine offizielle Aufhebung der Evakuierung gab es nie. Die 53-Jährige: „Wir werden immer im Zusammenhang mit dem Anschlag vergessen.“

Weitere Einzelheiten zum vierzehnten Prozesstag erfahren Sie in diesem Video von Videoredakteurin Samantha Günther. In dem sich unter anderem Nachbarn der Opfer von Wiedersdorf zur Dorfsituation am 9. Oktober äußern.