1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Denkzentrale im Dauerstress

Handy-Belastung Denkzentrale im Dauerstress

Lesen, Freunde in Netzwerken, Hilfs-Apps - vieles läuft digital. Wie unser Gehirn auf die neuen Reize reagiert, wird in Magdeburg erforscht.

Von Petra Kaminsky 15.02.2020, 23:01

Magdeburg l Henriette zögert, als sie in die winzige Kabine klettern soll. Wenig später sitzt die Zweijährige auf dem Schoß ihrer Mutter. Die Augen leuchten. Vor ihr steht ein Bildschirm, ein Film läuft. Plötzlich horcht sie auf. Etwas summt, ähnlich wie ein Handy.

Was Henriette nicht weiß: Eine Spezialkamera für Eye-Tracking zeichnet ihre Augenbewegungen und die Pupillengröße auf. Henriette sitzt im Zentrum eines Versuchs im Kinderlabor in Magdeburg. Es geht um Aufmerksamkeit, Ablenkung und den Aufbau des Gehirns. Es geht um aktuelle Forschung – auch zum Einfluss der digitalen Dauerbespielung.

Außerhalb der Kabine wandern die Blicke von Professorin Nicole Wetzel zwischen mehreren Monitoren hin und her. Zu ihr werden die Daten von Testpersonen drinnen übertragen. Weiße Bluse, dunkles Jackett, Jeans, so sitzt die 45-Jährige in dem Labor am Leibniz-Institut für Neurobiologie. Sie möchte ergründen, wie sich Aufmerksamkeit, Lernen und das Gedächtnis von Kindern und Jugendlichen entwickeln.

Ein heißes Thema in Zeiten, in denen viele Kids ihre Finger kaum vom Handy lassen können. In Zeiten, in denen Krankenkassen vor Internetsucht und Social-Media-Abhängigkeit warnen. Zwar forschen die Magdeburger ursprünglich allgemein zur Hirnaktivität beim Lernen und Erinnern und nicht zur Medienwirkung. Doch Wetzels Aufmerksamkeitsversuche sind ein Baustein in dem Mosaik von Studien weltweit, die die Arbeit der Zellen im Gehirn ergründen.

Welche Spuren hinterlässt die Dauerpräsenz von Smartphones in unseren Köpfen? Gibt es deformierte Twitter- oder Facebook-Gehirne, wie manche Pessimisten warnen? „Grundsätzlich ist es so, dass wir noch relativ wenig darüber wissen, wie digitale Medien das Gehirn und seine Aktivität verändern“, sagt Nicole Wetzel.

Die Expertin lächelt ansteckend freundlich. „Dass sie es verändern, ist keine Frage. Denn alles, was wir erleben, was wir lernen, egal ob wir ein Buch lesen oder eine Sandburg bauen, verändert unser Gehirn. Die Frage ist nicht ob, sondern wie genau.“

Bei Versuchen kontrolliert ihr Team die Augen – wie bei Henriette. Die Pupillen reagieren nicht nur auf Licht, sondern auch auf kognitive Prozesse. „Wenn wir etwas Überraschendes hören, weiten sich unsere Pupillen“, erläutert die Forscherin.

Eigentlich sollen die Testpersonen eine Aufgabe erfüllen. Wenn zwischendurch ein Handy klingelt, können die Forscher mit ihren Eye-Trackern erkennen, dass jemand von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt wird.

Eine weitere Messmethode setzt bei den elektrischen Strömen im Gehirn an. Dafür bekommen die Probanden Hauben mit Elektroden für ein EEG auf den Kopf gezogen. Die Mess-Kappen zeichnen auf, welche Bezirke im Kopf in Schwung kommen, wenn ein Reiz eintrifft. Bestimmte Muster erlauben den Forschern Rückschlüsse, wie abgelenkt jemand ist.

„Wenn ein Störgeräusch eingespielt wird, reagieren die Kinder meist langsamer oder machen mehr Fehler“, sagt Wetzel. „Und je jünger die Kinder sind, desto mehr sind sie beeinträchtigt in ihrer Leistung.“

Nun ist unser Denkapparat keine Festplatte, auf der man nur speichert und abruft, sondern ein empfindliches, hochgradig wandelbares Organ. Das Hirn reagiert schnell auf Einflüsse von außen, es ändert seine Vernetzungen. Experten sprechen von Plastizität.

„Man kann sich das vereinfacht so wie ein Wegenetz vorstellen: Am Anfang, bei einem Kleinkind, sind viele Wege angelegt“, erläutert Wetzel. „Und die Wege, die die Kinder häufig nutzen, die werden zu großen, breiten Straßen ausgebaut, wo der Verkehr schnell fließt.“

Wenig genutzte Wege verkümmern – ihr Ausbau wird später im Leben mühsamer. „Wenn ich jeden Tag viele Male mein Handy hervorziehe, wird das irgendwann auch so eine breite Straße – um im Bild zu bleiben.“

Wenn Menschen in jungen Jahren schnell abgelenkt sind von Handy-Nachrichten und Pieptönen, wenn sie Störeinflüsse schwer kontrollieren können, wird so das tiefe Verstehen behindert? „Da ist noch vieles offen und zu erforschen“, sagt Wetzel.

Forscher würden sehr unterschiedliche Ergebnisse vermelden: Aufmerksamkeit kann mit bestimmten Computerspielen trainiert werden. Einerseits. „Andererseits wird über Zusammenhänge zwischen übermäßigem Medienkonsum und beeinträchtigter Aufmerksamkeit berichtet.“

Noch ist die Digitalisierung in vollem Gange. Der Smartphone-Boom etwa läuft erst seit etwas über zehn Jahren – zu kurz für große Langzeit-Studien. Trotzdem: Menschen nutzen vermehrt Navigationsapps statt Straßenkarten, Tablets statt Bücher, Einpark-Hilfen im Auto und sprechende Assistenten zu Hause.

Oft deuten sich Zusammenhänge an, aber ob ein Geschehen wirklich Ursache eines Wandels im Kopf ist, bleibt häufig erst mal unklar. In Großbritannien veröffentlichte die Gesundheitsorganisation RSPH einen Report zu sozialen Netzwerken und der Gesundheit junger Menschen. Ein wichtiger Punkt: Das Handy am Bett, das Checken, um nachts nichts zu verpassen, kann den Schlaf massiv stören.

Einer von fünf Jugendlichen kontrolliere nachts seine Netzwerke. Für den Aufbau des jungen Gehirns jedoch ist viel Schlaf essenziell, wie die Studienmacher betonen.

In den USA machte der Psychologe Adrian F. Ward bei zwei Versuchen, die er 2017 mit Kollegen präsentierte, spannende Entdeckungen: Allein die Nähe des eigenen Smartphones reicht danach aus, dass Menschen bei Testfragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter.

Ward schlussfolgert, dass ein nahes Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsgedächtnis in den Stirnlappen der Großhirnrinde, im Präfrontalen Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen es unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es ebenfalls aktiv.

Dass digitale Techniken in diesem wichtigen Hirnteil Spuren hinterlassen, berichten auch die Experten vom Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen. Hier erforschen rund 90 IWM-Wissenschaftler, wie Computer, Tablets und Internet Lernen und Lehren verbessern können. Sie nutzen – ähnlich wie die Magdeburger – auch Eye-Tracking und EEG-Hauben.

„Digitale Medien sind per se weder gut noch böse“, stellt Psychologie-Professorin Ulrike Cress, 53 und Direktorin des Instituts, klar. „Sie haben bestimmte Eigenschaften, die das Denken beeinflussen. Wir analysieren, wie wir Medien besser nutzen, um Lernprozesse zu erleichtern. Und wie wir negative Effekte vermeiden, etwa – bezogen auf das Internet – die Überlastung des Gehirns durch zu viele Informationen.“

Gruppenleiter Peter Gerjets sagt zum Stichwort Überlastung: „Lesen und Lernen im Internet ist anders als im Buch“, sagt der 54-Jährige. „Das liegt daran, dass digitale Texte andere Funktionalitäten enthalten als analoge, gedruckte Texte.“ (dpa)