1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Entschuldigung, aber

Höflichkeit Entschuldigung, aber

Unser Gastautor aus London berichtet über sein neues Leben in Sachsen-Anhalt und über Höflichkeit.

Von Paul Kilbey 25.08.2018, 23:01

Magdeburg l Briten mögen es, höflich zu sein. Wobei „mögen es“ hier noch untertrieben ist – es ist mehr eine Besessenheit. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Studie, die belegt, dass wir häufiger danke sagen als andere Nationen. Die Deutschen wurden leider bei der Studie nicht berücksichtigt.

Manchmal fühlt sich britische Höflichkeit ein bisschen wie eine Krankheit an. Es kommt beispielsweise vor, dass man in der vollen Londoner U-Bahn so sehr gegen die Wand gequetscht wird, dass man kaum noch atmen kann. Und trotzdem entschuldigt man sich bei den anderen dafür, dass man zu viel Platz in Anspruch nimmt.

Es ist ein Laster, das man sich schwer abgewöhnen kann. Trotzdem sollten wir das dringend tun, denn die Hälfte unserer Entschuldigungen sind nicht ernst gemeint. Als ich noch in London gearbeitet habe, habe ich einmal eine E-Mail an jemanden geschickt, den ich noch nie zuvor getroffen hatte. Ich fragte, ob die Person einen schönen Urlaub hatte. Die Person schrieb zurück, dass der Urlaub gar nicht schön war, weil ein Familienmitglied sich den Arm gebrochen habe. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte.

Zu ähnlich bizarren Situationen kommt es in der Londoner U-Bahn - die Brutstätte von falscher Höflichkeit und unterdrückter Aggression. „Es tut mir wahnsinnig leid”, würde ein Brite sagen, „aber Sie stehen auf meinem Fuß.” Tut es der Person wirklich leid? Natürlich nicht. Zu höflich zu sein ist damit gleichzusetzen, ein bisschen irre zu sein.

Außerdem ist höflich sein nicht das Gleiche wie formell zu sein. Das habe ich in Deutschland gelernt. Deutsche haben viel weniger Scheu davor, etwas Unhöfliches zu sagen. Stattdessen sind sie sehr formell.

Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich schon immer im künstlerischen Bereich gearbeitet habe – zuletzt für das Royal Ballet in London. Ich bin es gewohnt, dass E-Mails mit einem „Hi” beginnen. Dann folgt ein freundliches „Ich hoffe, dir geht es gut” - auch wenn man einem Fremden schreibt. Ich habe das Gefühl, dass mir die Verhaftung drohen würde, wenn ich das hier machen würde - in dem Land von „Sehr geehrte(r) Herr/Frau”.

Eine deutsche E-Mail zu lesen ist vergleichbar mit dem Gefühl, eine eiskalte Dusche zu nehmen. Es reinigt dich von der Erwartung, dass es sich hier um etwas auch nur einen Hauch Zwischenmenschlicheres handelt, als einen strengen professionellen Austausch. Die Schlussformel „Mit freundlichen Grüßen”, fühlt sich immer ein bisschen ironisch an.

Doch das betrifft nicht nur den Arbeitsplatz. Hier wird man auch sonst fast überall mit „Sie“ angesprochen. Ich habe ein Jahr gebraucht, um zu begreifen, wie oft man tatsächlich mit „Sie” angesprochen wird. Und wie viele Menschen ich wahrscheinlich zutiefst beleidigt habe, indem ich gefragt habe: „Wie geht’s dir?” Mal im Ernst: Muss ich meine Nachbarn wirklich mit Sie ansprechen? Die Menschen, deren Wecker ich morgens durch die Wand höre und die ich im Pyjama beim Müll-Wegbringen treffe?

Dass es kein „Sie” gibt, ist eines der Dinge, die ich an der englischen Sprache am meisten mag. Das gab es übrigens mal – vor Jahrhunderten. Es war „you”, „thou” war die lockere Ansprache. Wenn man es genau nimmt, nutzen die Englischsprachigen also heute nur noch die einst formelle Ansprache.

Nur ein Wort als Ansprache zu haben, erzeugt ein Gefühl der Gleichberechtigung. Man muss nicht vorher überlegen, ob man jemanden in die Kategorie „Du” oder „Sie” steckt. Man sagt zu allen das Gleiche – so lange man höflich ist.

Deutsche Formalität und britische Höflichkeit sind zwei auf seltsame Art und Weise widersprüchliche Angewohnheiten. Und das, obwohl sie sicherlich einen ähnlichen urprünglichen Hintegrund haben: Man will damit zeigen, dass man andere Menschen respektiert. Es ist nur so, dass die Briten das tun, indem sie freundlicher tun, als sie eigentlich tun, während Deutsche … nun ja … das Gegenteil tun.

Es tut mir leid, wenn ich das jetzt so sagen muss, aber ich bevorzuge hier den britischen Ansatz. Und nein, du, ähm, Sie haben recht. Es tut mir überhaupt nicht leid, das zu sagen. Es erschien mir nur höflich, so zu tun.