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Höhenangst Zitternd in den Abgrund

Was geschieht, wenn Angst übermächtig wird und die Luft zum Atmen nimmt? Fünf Volontäre haben es ausprobiert.

04.06.2016, 23:01

Thale l Ich war mir nicht ganz sicher: handelt es sich um schwarzen Humor der Teammitglieder oder eine lukrative Kooperation, als mir Enrico Kraft den Kugelschreiber vom benachbarten Bestattungsunternehmen in die Hand drückt. „Unterschreib‘ schon mal deine Verzichtserklärung, dann haben wir hinterher weniger Ärger“, sagt der Mitarbeiter von Harzdrenalin, einem Outdoorsport-Anbieter in Elbingerode. Seit 2011 verpassen sie jährlich hunderten Menschen eine ordentliche Prise Adrenalin.

Wir befinden uns auf der Talsperre Wendefurth bei Thale im Harz – 43,5 Meter über der Bode. Im Gegensatz zu den bisher recht sonnigen und warmen Aprilwochen herrschen heute fünf Grad, Schnee und Wind. Optimale Bedingungen, um senkrecht eine Wand hinunterzulaufen, sehen anders aus.

„Mensch, hast du ein Glück. Ein bisschen windiger, und wir dürften dich heute nicht runterschicken“, meint Sebastian Lehmann und lächelt mich an, während er mir die Sicherheitsausrüstung vorführt. Ich Glückspilz, denke ich mir. Es fallen viele Fachbegriffe aus dem Bergsteigerjargon. Alles, was bei mir hängen bleibt, sind jedoch „Sicherheitshaken“ und „keine Angst, runter kommen sie alle“.

Mein Leben hängt anscheinend an den Händen von drei echten Harzer Scherzkeksen. „Wir sind einfach immer gut drauf. Leuten, die große Angst haben, versuchen wir sie so etwas zu nehmen, und Leuten, die keine Angst haben, wollen wir dann auch welche einjagen. Das Adrenalin gibt einem schließlich den Kick“, sagt er. Zu welcher Kategorie sie mich zählen, bleibt mir jedoch vorerst ein Rätsel. Und auf meine Frage, ob denn schon mal etwas Schlimmeres passiert sei, antwortet er trocken mit einem Schulterzucken: „Heute noch nicht.“

Schon mein Leidensgenosse Johann Wolfgang von Goethe litt an Höhenangst. Er überwand sie, indem er so oft auf den Münsterturm stieg, bis ihm die Höhe egal war. Ich kämpfe bereits seit vielen Jahren gegen meine Höhenangst. Das höchste Sprungbrett im Schwimmbad war für mich bisher der Beckenrand, und vor dem Flug in den Urlaub muss ich grundsätzlich zu Beruhigungsmitteln greifen und verschlafe den Film. Der Fachausdruck dafür lautet Akrophobie und leitet sich vom griechischen Wort „ákros“ ab, das soviel wie Gipfel oder Spitze bedeutet.

Doch das bringt mich jetzt nicht weiter, denn es geht an den Rand der Staumauer. Sebastian ist mittlerweile nach unten gelaufen, beginnt via Funkgerät mit der Checkliste und wünscht viel Spaß. Bereits jetzt kralle ich mich so sehr in das Seil, dass mir die Handflächen brennen. Die Knie werden weich und zittern. Liegt es an der Angst oder doch nur an der Kälte? Schieben wir es auf die niedrigen Temperaturen. „Der erste Schritt ist der Schlimmste“, hallt es von hinten. Ich würde mir vor Lachen auf die Schenkel klopfen, wenn ich dafür nicht das Seil loslassen müsste.

Langsam lasse ich meine Füße über die Kante der Staumauer kippen und gebe dem Seil etwas nach. Millimeter für Millimeter neigt sich mein Körper in die Waagerechte und das Unwohlsein steigert sich ins Unermessliche. Der Blick in die Tiefe macht mich fertig. Alles, was mich jetzt noch von der eiskalten Bode trennt, sind ein gelbes Seil, Enricos Hände und 43 Meter Luftweg nach unten. Mein Leben hängt sozusagen am seidenen Faden. „Erst wenn dein Kopf tiefer ist als deine Füße, kannst du weitergehen“, ruft Enrico von oben.

Schritt für Schritt schleiche ich die etwa zehn Meter lange installierte Metallplatte entlang. Durch das Wetter ist sie extrem rutschig, aber was soll schon passieren? Ausrutschen kann ich ja nicht. Als ich bemerke, dass mich mein Brustgurt wirklich trägt, beginne ich dem Konstrukt etwas zu vertrauen. Kurz vor dem Ende der 90-Grad-Metallplatte fragt mich eine Stimme von oben: „Vertraust du mir?“ Meine Antwort: ein klares Nein. „Dann kannst du jetzt das Seil loslassen und die Arme ausstrecken.“

Ich halte Enrico für verrückt, dennoch verspüre ich den Drang, es zu tun. Gefüllt mit Adrenalin bildet mein Körper ein X, und gerade als sich meine Angst beginnt, in ein Gefühl der Freiheit zu wandeln, überlässt mich Enrico etwa einen Meter dem freien Fall. Von oben und unten vernehme ich Gelächter – in mir hat sich das Freiheitsgefühl nun in Wut gewandelt. Während sich mein Körper abwärts bewegt, geht es mit meiner Laune aufwärts, die Metallplatte ist geschafft. Ab jetzt wandere ich auf dem Stein der Staumauer, und es geht nicht mehr 90 Grad hinunter, denn ab hier ist die Mauer gewölbt. Etwa in der Mitte meines Weges soll ich stoppen.

„Und jetzt drückst du dich ganz fest mit beiden Beinen von der Mauer ab und springst“, ruft Sebastian mir von unten zu. Freundlich, aber bestimmt antworte ich erneut mit einem klaren „Nein“. „Tja Pech“, sagt er, „dann musst du wohl dableiben, denn nur so kommst du ab diesem Punkt weiter“. Klasse.

Na gut, dann geht es wohl nicht anders, denke ich mir und gehe leicht in die Knie. Plötzlich ist das Zittern wieder da. Offenbar ist es noch kälter geworden. Dann setze ich zum Sprung an und stoße mich einige Zentimeter von der Mauer ab. Ein unglaubliches Gefühlsgemisch aus Angst und Euphorie durchzieht meinen Körper.

Erneut stoße ich mich ab. Dieses Mal kräftiger und weiter vom Gestein der Talsperre weg. „Nicht vergessen, dich am Seil nach unten zu ziehen, sonst bleibst du auf der Stelle“, ruft mir Florian Grund von oben zu. Sprung für Sprung gelange ich so immer näher an die kleine Schwimm- insel auf der Bode, wo mich Sebastian in Empfang nimmt.

„Wie fühlst du dich?“ fragt er mich. Abgesehen von der Erschöpfung, den brennenden Oberschenkeln und den eiskalten Händen – erleichtert. Und dem Bestattungsunternehmen bin ich mit großer Überwindung und ein wenig Selbstironie nochmal von der Schippe gesprungen.