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Inklusion Sachsen-Anhalt mustert Sonder-Kitas aus

Kinder mit Hörschäden sollen künftig ganz normale Kindergärten besuchen. Betroffene Eltern warnen vor Problemen.

Von Hagen Eichler 25.09.2015, 01:01

Halberstadt l Kirsten Track hat mit ihren Zwillingen alles versucht. Die heute vierjährigen Jungs haben erst einen normalen Kindergarten besucht, danach einen integrativen – und doch waren sie stets Außenseiter. „Die saßen für sich in ihrer Spielecke und haben stundenlang an einem Lenkrad gedreht“, erinnert sich die 27-Jährige aus Osterwieck am Harz.

Flynn und Norman sind schwerhörig, ihre Entwicklung ist verzögert, damals konnten sie kaum sprechen. Sie bissen und kratzten, warfen sich auf den Boden – wahrscheinlich, um Zuwendung zu erzwingen. „Norman fing irgendwann sogar an, sich absichtlich den Kopf zu stoßen.“ Eine Kinderärztin wusste schließlich Hilfe: Sie empfahl der ratlosen Mutter eine Kita in Halberstadt, speziell für Hörgeschädigte.

Seither besuchen die Jungs die Einrichtung, die zum Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte (LBZH) gehört. Ihre Mutter ist begeistert von den Fortschritten der Kinder. „Die kommen ausgeglichen nach Hause, ohne Missmut und Gezanke. Flynn spricht mittlerweile sogar schwierige Wörter wie Waschmaschine oder Trampolin.“ Kein Wunder: Die Betreuung in Halberstadt ist intensiv. Jede Gruppe besteht aus nur drei oder vier Kindern, es gibt Logopädie, Ergotherapie und therapeutisches Reiten.

Doch all das steht vor dem Aus, die Zwillinge gehören zum letzten Jahrgang der Kita. Die Einrichtung, die offiziell „Schulteil mit schulvorbereitendem Angebot“ heißt, durfte in diesem Sommer keine Kinder mehr aufnehmen. In zwei Jahren wird sie geschlossen, genauso wie die zweite Hörgeschädigten-Kita des Landes in Halle.

Die Begründung ist simpel: Das Kultusministerium will nicht länger für ein Angebot zahlen, für das es gesetzlich gar nicht zuständig ist. Kitas für Körperbehinderte und für Sehgeschädigte hat das Haus von Stephan Dorgerloh (SPD) bereits zuvor geschlossen. „Für das letzte Kindergartenjahr bieten wir zur Vorbereitung auf die Schule eine spezielle Förderung an“, sagt Bernd Küster vom Kultusministerium, „eine Betreuung sieben Stunden am Tag, fünfmal die Woche ist aber nicht unsere Aufgabe.“ Das Sozialministerium wiederum ist zuständig, sieht aber hörgeschädigte Kinder in normalen Kindergärten besser aufgehoben. „Das ist auch ein Beispiel für sich entfaltende Inklusion“, sagt Sozialminister Norbert Bischoff (SPD) auf Nachfrage.

Ende August hatte er die Einrichtung besucht. Auch künftig werde das Land eine optimale Förderung sicherstellen, versprach er. Zuständig dafür sind die sogenannten Frühförderstellen. Deren Mitarbeiter könnten auch in die Kitas kommen, um hörgeschädigte Kinder ganz gezielt zu unterstützen. „Maßstab ist der individuelle Förderbedarf“, sagt Ministeriumssprecher Holger Paech. Mit anderen Worten: Die Kinder bekommen, was sie brauchen – nur eben nicht mehr in den zwei bisherigen Spezialeinrichtungen.

Der Behindertenbeauftragte der Landesregierung hält das für den richtigen Weg. Die Spezialeinrichtungen seien ausgrenzend, sagt Adrian Maerevoet, die Kinder lebten dort unter einer Käseglocke. „Wir haben uns den Luxus geleistet, bestimmte Menschen mit hohem finanziellem Aufwand auszusondern – immer unter dem Vorwand, sie dadurch besser zu fördern.“

LBZH-Leiter Martin Eggert sieht den Kurswechsel hingegen kritisch. „Jedes unserer Kinder hat zuvor einen integrativen Kindergarten besucht, und in jedem Fall haben die Eltern oder die Kita selbst festgestellt, dass die Förderung dort nicht reicht“, sagt er. Es sei wichtig, dass hörgeschädigte Kinder andere mit dem gleichen Problem erleben und sehen, dass man trotzdem einen Schulabschluss erreichen kann.

Unter den Hörgeschädigten gebe es manche, die sich auch in ganz normalen Kitas durchsetzen könnten, räumt Heide Dannenberg ein, die die Halberstädter Vorschuleinrichtung leitet. Andere Kinder aber bräuchten sehr viel Unterstützung, um die Sprache zu entdecken. „Die suchen sonst andere Wege, ihre Gefühle zu äußern, sie werden auffällig oder sie ziehen sich in sich zurück.“ Nur durch äußerst intensive Betreuung könne man diesen Kindern das Erfolgserlebnis geben, verstanden zu werden.

Eltern, deren Kinder teils lange Wege zur Halberstädter LBZH-Kita fahren, sind entsetzt über das bevorstehende Aus. „Schockiert und wütend“ ist etwa Kirsten Track, die Mutter von Norman und Flynn.

Auch der Schönebecker Bernd Holze, dessen Tochter täglich mit dem Taxi nach Halberstadt gefahren wird, hält die Entscheidung für falsch. Im integrativen Kindergarten habe seine Tochter wöchentlich nur 20 Minuten Therapie bekommen. Seit dem Wechsel nach Halberstadt sei das Kind aufgeblüht und spreche bereits ganze Sätze. „In einem normalen Kindergarten passt oft eine Erzieherin auf 30 Kinder auf. Ein hörgeschädigtes Kind geht da doch unter.“