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Interview „Wir können sagen: Ja, wir sind Ossis“

Valerie Schönian über ihr neues Buch „Ostbewusstsein“ und die Frage, was Nachwendekinder zur Deutschen Einheit beitragen können.

25.03.2020, 05:39

Volksstimme: In „Ostbewusstsein“ geht es auch um deine eigene Identität und deine persönliche Ossi-Werdung. Was steckt dahinter?
Valerie Schönian: Die Ossi-Werdung war ein Prozess und ist es immer noch. Ich bin in Magdeburg mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Deutschland aus 16 Bundesländern besteht und nicht aus Ost und West. Das hat sich das erste Mal geändert, als ich nach Berlin gezogen bin und Leute traf, die „Kling Klang“ nicht kannten – aber so richtig erst ab 2016 mit den Ergebnissen der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Da fand auf einmal ein pauschaler Angriff auf die Ostdeutschen statt. Und ich dachte mir: Was passiert hier gerade und woher kommt das?

Eine Trotzreaktion also?
Genau. Ich komme aus dem Osten. Wenn dann pauschal die Ostdeutschen oder die Magdeburger verurteilt wurden, musste ich etwas sagen. Das Bild in den Medien über den Osten ist immer noch sehr negativ geprägt. Der Osten kommt immer nur dann vor, wenn es um Rechtsextremismus oder die AfD geht. Die Leute wissen einfach nicht, dass der Osten viel vielschichtiger ist. Aber ich weiß das, weil ich in Magdeburg aufgewachsen bin.

Du hattest das Bedürfnis, etwas richtigstellen zu müssen.
Ja, ich hatte das Gefühl, ich muss auch meine Familie, Freunde und Bekannten verteidigen.

Woraus sich ein „Wir“-Gefühl entwickelt, das du auch in deinem Buch beschreibst.
Ich habe viel darüber nachgedacht, ob es überhaupt noch so ein „Wir“-Gefühl bei der Nachwendegeneration gibt. Sobald ich anfange, von meinem Ossi-Gefühl zu reden, entgegnen mir Leute immerhin ständig: „Was hast du denn noch mit dem Osten zu tun?“ Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es natürlich ein „Wir“ gibt. Das heißt nicht, dass wir Nachwendekinder alle gleich sind, aber der Osten ist ein Sozialisationsraum, der sich in einigen Punkten einfach unterscheidet von Westdeutschland. Das hat nicht einfach aufgehört ab 1990. Damit gehen Erfahrungen einher, die einen prägen.

Wenn du von „wir“ sprichst, gibt es automatisch auch ein „ihr“. Abgrenzung. Ist das nicht das Gegenteil von dem, was viele wollen, bezogen auf die Deutsche Einheit?
Der sogenannten Identitätspolitk wird immer die Frage gestellt: Grenzen wir hier nicht aus? Ich glaube, wenn man ein „Wir“ beansprucht, muss man immer aufpassen, dass es nicht spaltend wirkt. Aber dieses „Wir“ bewusst zu setzen, kann auch etwas Positives sein. Erstens, weil eine gemeinsame Stimme lauter ist und so anderen Menchen bewusst gemacht werden kann, dass die ostdeutsche Perspektive überhaupt existiert und eine andere ist im Vergleich zur westdeutschen. Und zweitens, um sich gegenseitig Mut zu machen.

Du beschreibst ein Treffen mit einem Westdeutschen nach der Landtagwahl 2016. Dein Gesprächspartner spricht von „Ossi-Gejammer“. Was löst dieser Begriff in dir aus?
Augenrollen, um ehrlich zu sein. Ich kann das nicht ernst nehmen. Wenn mich jemand als Jammer-Ossi bezeichnet, frage ich: Kannst du dir nicht was Neues ausdenken? Ich glaube, das ist ein großer Unterschied zur Generation meiner Eltern. Ich bin mehr als 20 Jahre lang in dem Glauben aufgewachsen, dass sich Ost und West auf Augenhöhe befinden.Aber die Ostdeutschen mit Umbruchserfahrung wurden jahrelang immer wieder als Jammer-Ossis bezeichnet. Dabei ist dieses Vorurteil natürlich Quatsch. Wenn man sich mit ostdeutscher Geschichte beschäftigt, weiß man, was passiert ist, was Menschen nach der Wende meistern mussten. Wenn Westdeutsche dann vom Jammer-Ossi reden, werde ich eher wütend und denke mir: Was soll das? Aber wenn man das jahrzehntelang erfahren hat, kränkt das irgendwann. Ich glaube, deshalb wollen ältere Generationen auch oft gar nicht mehr über Osten und Westen reden – sie hoffen, dann würde die Augenhöhe hergestellt. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.

Du sprichst im Buch von fehlender Reflexion. Warum?
Ostdeutsche mit Umbruchserfahrung hatten damals nicht die Zeit, zu reflektieren. Mein Vater hat auch als erstes gesagt, als ich mit ihm über mein Ossi-Gefühl reden wollte: Was hast du denn mit dem Osten zu tun? Ich war erstmal ziemlich perplex, weil ich dachte, er freut sich, dass ich mich mit dem Osten auseinandersetze. Aber es hat im Nachhinein total Sinn ergeben. Im Vergleich zwischen Osten und Westen war der Osten automatisch immer irgendwie das schlechtere. Ich würde sagen, dass wir, die Nachwendekinder, nicht mehr so vorbelastet sind wie unsere Eltern. Wir können sagen: Ja, wir sind Ossis. Na und? Meine Hoffnung ist, dass wir als Nachwendekinder noch mal selbstverständlicher unsere Stimme erheben und eben auch gehört werden. Damit haben wir die Chance, unsere Perspektive, aber auch verstärkt die Perspektive unserer Eltern und Großeltern darzustellen.

Aber ist nicht jede Bemühung, die ostdeutsche Perspektive ins Bewusstsein zu rücken, vergeblich, wenn Westdeutsche diese gar nicht sehen wollen?
Ich sage nicht, dass jeder diese Ost-Identität so fühlen und leben muss. Ich sage eher, es kann produktiv sein und es muss nichts Schlechtes sein, sich seiner Ost-Identität bewusst zu werden. Ostbewusstsein soll Westdeutsche miteinschließen. Westdeutsche sollen sich bewusst sein, dass es da diesen Osten gibt. Ich verlange nicht von allen Westdeutschen, dass sie sich permanent mit dem Osten auseinandersetzen. Aber ein Bewusstsein dafür, dass es diese ostdeutsche Perspektive gibt, wäre wünschenswert. Das kann man sich dann gleich für alle anderen Perspektiven bewusst machen – wie der viet-, afro- oder türkischdeutschen –, die auch zu diesem Land gehören. In Bezug auf den Osten muss man sagen: Hier waren auch die letzten 30 Jahre ganz andere als im Westen. Das heißt auch, dass die Menschen, die im Osten aufgewachsen sind und sich mit dem Osten beschäftigen, in Talk-Shows gesetzt werden müssen und nicht Westdeutsche, die den Osten gar nicht erlebt haben. Dafür müssen Redaktionen aber erstmal zu dem Bewusstsein kommen, dass sich diese west- und ostdeutsche Perspektive eben noch immer unterscheiden, auch bei den jüngeren Generationen.

Bewusstsein für die ostdeutsche Perspektive entwickeln – das klingt so, als stehen wir noch ganz am Anfang.
Ich glaube, dass in den letzten Jahren schon einiges passiert ist. Beispiel: Auf den ersten Listen, die nach der Bundestagswahl 2017 für das neue Kabinett kursierten, war für keinen Ministerposten eine ostdeutsche Person angedacht. Ich konnte das nicht fassen. Das war vier Monate nach der Wahl, bei der sich alle noch versprochen hatten, ab jetzt den Osten mehr auf dem Schirm zu haben. Es gab einen Aufschrei, Politiker und Medien haben das kritisiert. Und dann wurde Franziska Giffey, die in Brandenburg aufgewachsen ist, Ministerin im Bundeskabinett. Das zeigt: Die Kritik, das Reden, es bringt etwas. Ich höre auch von vielen Westdeutschen, gerade wegen des Redens über Ost und West und die Unterschiede: „Waren wir nicht schon mal weiter?“ Nein, waren wir nicht. Die Unterschiede waren nie weg. Ihr habt es nur nicht mitbekommen und ich auch nicht. Dass wir über den Osten jetzt so viel reden, ist etwas Gutes. Das heißt, wir bewegen uns in dem Prozess der Deutschen Einheit vorwärts, weil der Osten jetzt sichtbarer ist.

Wir sind also auf einem guten Weg?
Ja. Es gibt die These des Integrationsparadox. Viele denken, wenn es mehr Streit, mehr Debatten in einer Gesellschaft gibt, driften wir auseinander. Aber das ist nicht wahr. Streit ist ein Zeichen dafür, dass wir zusammenwachsen. Denn er entsteht dadurch, dass mehr Gruppen mitreden wollen – Gruppen, die schon immer zu dieser Gesellschaft gehörten, aber jetzt so integriert sind, dass man sie nicht mehr überhören kann. Die Gruppe, die bei den Ost-Debatten jetzt für sich beansprucht, auch mitreden zu wollen, das sind oft Nachwendekinder.

Du schreibst in deinem Buch: „Wir sind die Vermittlerinnen. Eine Generation als Scharnier. Wenn wir wollen.“ Das klingt nach viel Verantwortung.
Ich glaube, dass viel automatisch passiert. Ich beschreibe zum Beispiel das Treffen mit Benjamin (Benjamin Gruner, Anm. d. Red.) in Chemnitz, der nie ein Buch über den Osten schreiben würde oder auch nicht das Bedürfnis hat, ihn öffentlich zu verteidigen. Der aber eben in Chemnitz mit seinem gemeinnützigen Verein unheimlich viel Gutes macht und sich für einen progressiven Osten einsetzt. Es ist nicht notwendig, sich ostdeutsch zu fühlen und darüber ständig zu reden. Benjamin streitet automatisch für den Osten und bringt die Perspektive seiner Eltern ein. Eigentlich alle Personen, die ich auf dieser Reise getroffen habe, wollen, dass die ostdeutsche Perspektive gesehen wird.

Wenn du sagst, Nachwendekinder haben die Chance, das ostdeutsche Bild geradezurücken, stellt sich die Frage: Was ist mit denen, die gar keinen progressiven Osten wollen?
Darüber habe ich auch nachgedacht und das wäre vielleicht ein Thema für das nächste Buch (lacht). Ich bin in meiner Beschäftigung mit dem Osten noch lange nicht fertig, aber der erste Impuls für das Buch war, dem ganzen Ost-Diskurs ein „auch“ hinzuzufügen. Ich weiß, dass im Osten auch einiges schiefläuft und will das gar nicht beschönigen, aber ich will zeigen: Das, was ichhier schreibe, ist übrigens auch der Osten. Klar, viele andere Gruppen haben eine andere Realität erlebt, aber viele von uns hatten auch einfach eine großartige Jugend. Man kann natürlich sagen: Es ist mir egal, was die Leute vom Osten halten. Aber mir ist das nicht egal.

Kannst du nachvollziehen, dass es Nachwendekinder, wie zum Beispiel Bestseller-Autor Lukas Rietzschel gibt, die dieses Bedürfnis nicht teilen?
Ich kann es verstehen, aber es ist nicht meine Position. Aber Lukas Rietzschel lebt in Görlitz und macht so viele gute Sachen dort für die gesamte Region. Ich war ein paar Tage dort und bin dann wieder nach Berlin gefahren, was will ich ihm denn erzählen?

Als du in Görlitz bist, kommen bei dir Zweifel auf. Du fragst dich: Was mache ich hier eigentlich?
Ich war zu diesem Zeitpunkt in einem regelrechten Ost-Rausch, ich dachte: Ja, das ergibt voll Sinn, was ich hier mache. Ich wollte eigentlich ein Buch über den Osten schreiben, in dem es mal nicht um Wut und die AfD geht. Aber als ich in Görlitz war, fanden zeitgleich die Europawahlen statt, bei denen die AfD im Osten stark abräumte, und die Oberbürgermeisterwahlen statt, bei denen die Partei sogar stärkste Kraft wurde. Das kann man nicht ausblenden, wenn es um den Osten geht. Diese Ergebnisse will ich auch nicht verteidigen. Es hat sich deswegen danach falsch angefühlt, auf die positiven Seiten des Ostens hinzuweisen. Es hat sich aber auch falsch angefühlt, den Osten und das Wahlergebnis überhaupt zu beurteilen als jemand, der ein paar Stunden später wieder nach Berlin fährt. Trotzdem, ich war regelrecht persönlich beleidigt. Mein Gedanke war: Es ist politisch so viel passiert seit der Bundestagswahl, Parteien setzen Ostprogramme auf und so viele Leute versuchen die Ostdeutschen ernst zu nehmen – und ihr wählt trotzdem die AfD.

Das klingt nach Resignation.
Ja, ich habe dann eine Weile erstmal nicht am Buch gearbeitet. Dann sind aber immer wieder Dinge passiert, die mich da rausgezogen haben.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel dieses Treffen in Chemnitz mit Benjamin beim Kosmos-Festival. Zu sehen, dass es so viele Leute gibt, die für einen progressiven Osten einstehen, war ein beflügelnder Moment. Ich dachte mir: Valerie, du darfst nicht in die gleichen Muster verfallen wie alle anderen und den Osten jetzt auch noch pauschalisieren. Ganz viele Leute im Osten kämpfen für einen progressiven Osten. Viele meiner Gesprächspartner meinten auch, dass sie müde sind, immer wieder gegen zwei Seiten anzugehen. Dass sie einerseits im Osten gegen erstarkende rechtsradikale Kräfte streiten müssen, aber dann darüber hinaus permanent klarstellen müssen, dass diese rechtsradikalen Kräfte nicht für den ganzen Osten stehen.

Diese zwei Seiten sind auch eng mit der Spaltung verbunden, die es im Osten gibt. Sollten wir als Nachwendekinder nicht erstmal versuchen, dagegen etwas zu tun, bevor wir mit Osten und Westen beginnen?
Das machen diese Leute. Sie versuchen, etwas im Osten zu kitten und für den Osten zu streiten. Auf der anderen Seite gehen sie auch nicht durchs Leben und denken sich ständig, ich muss was im Verhältnis zwischen Osten und Westen verbessern. Was ich trotzdem immer wieder höre, ist, dass man sich darüber ärgert, wie der Osten in den Medien pauschal verurteilt oder gar nicht abgebildet wird. Beispiel nochmal Europawahl: Da wurden um 18 Uhr überall die feiernden Grünen gezeigt, galten als Wahlsieger. Dabei sah die Realität im Osten komplett anders aus. In Brandenburg und Sachsen wurde die AfD sogar stärkste Kraft.

Welche Bedeutung haben Medien?
Medien konstruieren Wirklichkeit. Alles, was nicht unmittelbar in meinem Umkreis passiert, kann ich nur durch Medien wahrnehmen. Medien konstruieren daher auch unser Bild von Ostdeutschland entscheidend mit.

Es läuft also ziemlich falsch in unserer Medienlandschaft?
Es gibt das Problem, dass viele Redaktionen überregionaler Zeitungen noch immer männlich, heterosexuell, weiß – und eben westdeutsch geprägt sind. Alle Zeitungen haben ihren Hauptsitz in Westdeutschland. Es wird vom Westen aus auf den Osten geblickt. Das heißt: Vor allem Westdeutsche konstruieren das Bild der Ostdeutschen. Das sollte sich ändern.

Ist das dein Anspruch?
Ja, die Ostdeutschen sollten doch dabei mitreden.

Die ursprünglich für 19. März geplante Lesung im Moritzhof Magdeburg wurde auf 17. September 2020 verschoben. Bereits erworbene Tickets behalten ihre Gültigkeit.