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Freiwilligendienst Lebensgeister der Senioren geweckt

Julian Heide berichtet über sein Freiwilligendienst in einem Altenzentrum in der moldauischen Hauptstadt Chisinau.

Von Julian Heide 06.10.2015, 23:01

Chisinau l Kannten Sie vor rund einem Jahr die Republik Moldau, auch Moldawien genannt? Jetzt ist Ihnen das Land vielleicht ein Begriff. Ich hoffe, einige Eindrücke aus meinem Freiwilligendienst in der moldauischen Hauptstadt Chisinau mit Ihnen geteilt zu haben. Seit gut einem Monat bin ich wieder in Deutschland und möchte das bisher Erzählte zu Ende bringen.

Ehemalige Freiwillige reden nach ihrem Dienst gern vom besten Jahr ihres Lebens. Ob ich so große Worte dafür finden würde, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist es genau das, was ich sagen wollen würde. Wenn ich genauer darüber nachdenke, was ich erlebt habe, wohin ich gereist bin und wie ich gelebt habe, dann war das letzte Jahr ein Umbruch. Alles wurde neu: das Wohnen, das Leben, das Essen. Und alles wurde spannender.

„Ich spürte Dankbarkeit für das kostenlose Mittagessen.“

Mein Tag begann gewöhnlich gegen um 9.30 Uhr mit Vorbereitungen für die Aktivitäten im Tageszentrum für Senioren, vor allem Bastel- oder kleinere Recherchearbeiten. Gegen 11 Uhr kamen die ersten Besucher ins Zentrum, für mich die Gelegenheit, Gespräche zu führen, zuzuhören, Spiele zu spielen. Die Geschichten, die man hörte, waren lustig oder bedrückend, keiner der Rentner bekommt monatlich mehr als hundert Euro, obwohl alle von ihnen Jahrzehnte gearbeitet haben.

Ich spürte Dankbarkeit für das kostenlose Mittagessen, wie Verbitterung über das neue Moldau. „Wir werden nicht mehr gebraucht“, ist das bestimmende Gefühl. „Früher war es besser“, resultiert oft daraus.

Die Kritik geht an die korrupte Regierung, an die Jugend, der die Alten egal seien, an die gestiegenen Preise. Auch harte Schicksale waren keine Seltenheit: Eine Frau hat beispielsweise bei einem Skiunfall in den Karpaten beide Hände verloren. Nur zwei Finger sind ihr geblieben. Trotzdem hat sie ihr Leben lang gearbeitet, sich, so sagt sie selbst, nie zurückgelehnt oder bewirten lassen. Drei Kinder hat sie groß gezogen. Sie schimpft gern auf die Leute, die angeblich in die Kantine kommen, weil sie zu faul sind zu arbeiten. Ein anderer Mann erzählt von seiner Verfolgung durch den russischen Geheimdienst KGB, die ihn aus Russland nach Moldau getrieben hat. In der Welt um ihn herum wittert er überall Verschwörungen, der KGB existiere noch als Mentalität und Loyalitätsgefühl in den Köpfen der Menschen weiter, meint er.

„Was ich geben kann, ist vor allem ein bisschen meiner Zeit.“

Eine andere Besucherin hat bei einem Brand 2008 ihr Haus verloren, das ist noch immer eine Ruine. Sie schläft jetzt in einer Obdachlosenunterkunft. Vor kurzem hat sie mir Fotos von ihrem Sohn gezeigt. Der wurde vor wenigen Monaten umgebracht – wer das getan hat oder warum, weiß sie nicht.

Was ich geben kann, ist vor allem ein bisschen von meiner Zeit. Zeit um zuzuhören, Zeit um einfach nach dem Befinden zu fragen. Schlussendlich war das für mich ein entscheidender Teil des Brückenbauens: Menschen das Gefühl wiederzugeben, Menschen zu sein. Das Gefühl der Einsamkeit und der Überflüssigkeit zu überwinden und zumindest für einige Stunden am Tag in Gesellschaft zu sein und sich unterhalten oder eine Partie Schach spielen zu können.

Der Umgang mit Alten, also auch der Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sagt viel über eine Gesellschaft aus, welche Zukunft sie hat, wohin sie geht. Deshalb ist Altenarbeit trotz der vielen Eigenheiten der Menschen und schwierigen Charaktere keine Zeitverschwendung, sondern wichtiger Teil des sozialen Engagements.

Um 12 Uhr begann dann der anstrengende Teil des Tages – die Arbeit bei der Essensausgabe. Täglich kommen rund 150 Menschen, vor allem Rentner in zwei Runden in die Suppenküche. Dann müssen zwei Gänge ausgeteilt werden, Teller wieder abgeräumt und die Räume geputzt werden, bevor um 13 Uhr die zweite Runde kommt.

Von den Vorbereitungsseminaren her kannte ich die Idee der Stadtrallye. In den Wintermonaten etwa kam mir die Idee, eine Stadtrallye für Freiwillige zu organisieren. In den folgenden Monaten habe ich zusammen mit einem moldauischen Freiwilligen der Casa Providentei interessante Orte in einem unbekannten Stadtteil gesucht, Pfade konstruiert, Aufgaben zusammengestellt. Herausgekommen ist ein Spiel von rund drei Stunden, in denen 15 Teilnehmer den Spuren des alten Chisinaus, durch rumänische und sowjetische Zeit, gefolgt sind.

Im Sommer findet in der Casa Providentei zudem immer ein Kinderferienlager statt. Für diese eine Woche haben wir zusammen mit anderen Jugendlichen gebastelt, Tänze vorbereitet, Spiele getestet. Ich selbst war in der Woche einer der Gruppenleader und somit verantwortlich für 25 Kinder und deren Beschäftigung während des Ferienlagers.

„Der Freiwilligendienst war eine Möglichkeit, sich auszuprobieren.“

Neben der Casa Providentei wurde das Deutsche Haus „Hoffnung“ zu einer zweiten Arbeitsstelle. Zweimal in der Woche, immer montags und donnerstags, unterrichtete ich Deutsch mit einer kleinen Gruppe von Schülern zwischen 13 und 50 Jahren. In den A1 und A2-Kursen ergab sich die Möglichkeit mich in einer neuen Position auszuprobieren, neue Kontakte zu knüpfen und Abwechslung vom zum Teil sehr praktisch geprägten Alltag in der Casa Providentei zu finden. Auch wenn ich den Lehrer-Beruf wahrscheinlich trotzdem noch nicht sofort ergreifen werde, war es doch immer wieder Herausforderung wie Vergnügen, sich neue Inhalte, Methoden und Aufgaben zu überlegen.

An Wochenenden und Feiertagen sind meine Mitfreiwilligen und ich oft durchs Land und die Umgebung gereist. Moldawische Dörfer, die Stadt Soroca im Norden des Landes, die als Schmelztiegel der Roma- und Sinitikultur gilt oder das seit der Steinzeit besiedelte Tal bei Orheiul Vechi (Alt-Orhei). Im Winter und Frühling erkundeten wir Rumänien mit seinen Städten in Siebenbürgen und der rumänischen Moldova. Natürlich durfte auch das nahegelegene Odessa und die ukrainischen Schwarzmeestrände auf unserem Reiseplan nicht fehlen. Moldau bietet einen idealen Ausganspunkt um ein bisschen zwischen den Mentalitäten, zwischen Europa und post-sowjetischer Zivilisation, zwischen denen, bei denen die EU Realität ist und denen, die da noch hin möchten, zu reisen. Ein Ausflug nach Transnistrien ist immer auch ein wenig ein Ausflug in eine andere Zivilisation. Nicht nur, weil plötzlich alles, aber wirklich alles russisch ist, sondern weil die Leute andere Werte haben, anders denken, kurzum in Richtung Russland wollen. Das verkünden zumindest die Sprüche auf Trolleybussen und Plakaten in Tiraspol, Bender oder Ribniza den größten Städten des schmalen Landstreifens.

Der Freiwilligendienst war eine Möglichkeit, sich auszuprobieren und besser zu verstehen, wie wir eigentlich leben. Der Gegensatz zu Deutschland zeigt erst, wie viel Glück wir haben.