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Kegeln „Zippel Zerbst“ trotzt dem Trend

Kegeln ist out? Von wegen. Nicht in Zerbst. Der SKV Rot-Weiß trotzt mit seinem umtriebigen Präsidenten Lothar Müller dem allgemeinen Trend.

21.02.2018, 23:01

Zerbst l Audienz beim Zerbster „Kegel-Papst“ Lothar Müller. Der Vereinspräsident, den die Mitglieder liebevoll, aber auch ehrfürchtig mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche vergleichen, steht im kleinen „Empfangszimmer“ des SKV Rot-Weiß. Die Wangen glühen, die Augen leuchten. Der Stolz ist dem rührigen Ehrenamtler anzusehen. Zu Recht: Hier präsentiert sich nämlich der „FC Bayern des Kegelsports“.

Aber dies auf angenehm bodenständige, eher zweckmäßige Art: Schwarze Ledercouch, ein riesiges Fenster, das den Blick auf das Schmuckstück, die vier Kegelbahnen, freigibt.

Die unzähligen Medaillen, Meisterschalen, Urkunden und Pokale, die in der Ruhmeshalle des Fußball-Rekordchampion aus München in dekadenten Glasvitrinen mit Sicherheitsglas hübsch zur Schau gestellt werden, füllen in der guten Stube des Zerbster Vereinsheims sämtliche Holzregale und Wände. „Langsam wird es eng und wir müssen anbauen, aber das ist der Preis, den wir gerne zahlen“, schmunzelt der 64-jährige Vater des Erfolges.

Die Zerbster sind auf internationaler Bühne sogar preisgekrönter als die Millionen-Kicker aus München. Zwölf Meistersterne zieren das aktuelle rote Trikot der Bundesliga-Mannschaft um Kapitän Timo Hoffmann. Dazu kommen fünf Pokalsiege. Drei Triumphe in der Champions League wurden feucht-fröhlich gefeiert. Achtmal ging beim Triumphzug im Weltpokal der Schlachtruf „Zippel Zerbst“ (Zippel ist das plattdeutschen Wort für Zwiebel, die früher in der Region angebaut wurde) um den Erdball.

Doch das Ganze ist auch und gerade im Leistungsbereich des Classic-Kegelns kein volkssportliches Kinderspiel, sondern hammerharte Arbeit, betont Lothar Müller. „Und das vor und hinter den Kulissen, denn wir betreiben heute wie früher ein stiefmütterlich behandelte Randsportart – abseits der Öffentlichkeit und medial kaum präsent.“ Auch wenn sich die Zerbster diesbezüglich nicht beschweren könnten und wollten, wie der selbstbekennende „Kegel-Verrückte im positiven Sinne“ betont. „Unsere Medienpräsenz haben wir uns im wahrsten Sinne des Wortes durch Hartnäckigkeit und Erfolg redlich verdient.“

Seit über 19 Jahren spannt sich das Zerbster Urgestein vor den Karren des 1999 gegründeten Kegelvereins. „Man muss den Sport lieben und leben, um den Laden so lange zu schmeißen“, gibt der „Macher“ des SKV Rot-Weiß Zerbst, der einst selbst viele Jahre erfolgreich in der DDR-Oberliga unterwegs war, zu.

Im gleichen Atemzug betont er aber auch, dass er ohne den familiären Rückhalt durch Ehefrau Heiderose sowie das Teamwork seiner rührigen Mitstreiter im Verein „nichts, aber auch gar nichts“ sei. „Als Einzelkämpfer wäre ich verloren und es gäbe diesen Verein auch nicht mehr. Nur gemeinsam sind wir stark und können dem allgemeinen Trend trotzen“, erklärt der Präsident mit Verweis auf stetig wachsende Mitgliederzahlen. Im Gründungsjahr 1999 waren es 56 Mitglieder, davon 15 Jugendliche. Aktuell zählt der Verein 110, gut 20 Prozent macht der Nachwuchs aus.

Diesen für das Kegeln zu begeistern, liegt Müller & Co. aus reinem Selbsterhaltungstrieb besonders am Herzen. „Wer es nicht versucht, darf nicht jammern“, lautet das Credo des Vereins, der erst im Januar drei neue Mitglieder begrüßen durfte – gewonnen über die AG in der nahe liegenden Sekundarschule.

Zehn Männer und Frauen, darunter vier Übungsleiter, stehen Müller aktuell zur Seite, um die Tradition zu pflegen (1935 wurde der Zerbster Kegelsport erstmals urkundlich erwähnt), und das Vereinsleben am Laufen zu halten. „Und alles passiert ehrenamtlich, nach 16 Uhr. Aber die Strukturen müssen halt aus finanztechnischen Gründen schlank gehalten werden.“ Jeder einzelne Euro für den Spielbetrieb oder den Erhalt des 2003 von der Stadt erworbenen Eigentums müsse hart erarbeitet werden.

Während Andreas Förster als Sportwart für die Organisation und Timo Hoffmann für die rein sportliche Seite verantwortlich zeichnen, ist Lothar Müller für die Finanzen zuständig. „Mein Job ist schlichtweg das Klinkenputzen. Und das Netzwerken. Das ist ja nicht jedermanns Sache, aber ich habe vielleicht beim Rühren der Werbetrommeln das richtige Händchen“, vermutet der Diplomingenieur für Maschinenbau, warum es ihm immer wieder gelingt, Gönnern Geld für die „Randsportart unter den Randsportarten“ aus dem Kreuz zu leiern.

Rund 30 Sponsoren – vom kleinen Betrieb, der 250 Euro beisteuert, bis hin zu großen Kalibern wie den Stadtwerken, die Stadtsparkasse, Getec oder auch Lotto, die vier- oder gar fünfstellige Beträge zahlen – verhelfen den Keglern momentan zu ihren sportlichen Höhenflügen.

Aber die Sponsorensuche kostet Müller viel Zeit und Mühe, viel Geduld und Überzeugungskraft. „Bei einigen beiße ich mir die Zähne aus, bei anderen musste ich zehn Jahre lang immer wieder baggern, um sie als Sponsoren zu gewinnen.“ Dabei lässt er nichts unversucht und klopft sogar an die Türen von Global Playern. „Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, ist Müllers Motto. Und er verrät mit verschmitztem Lächeln auf den Lippen, dass er es sogar bei Roman Abramovic und Gazprom probiert habe. „Ich hatte dabei im Hinterkopf, dass die Russen Katharina die Große sehr verehren, und dachte, dass ich über die Zarin aus Zerbst einen Fuß in die Tür bekomme. Am Ende gab es sogar Rückantworten auf meine Schreiben, allerdings jeweils mit freundlichen Absagen.“

Doch anders als mit Wagemut, kreativen Ideen und eben ständigem Am-Ball-Bleiben bekomme er den Jahresetat von 160.000 Euro nicht zusammen. „120.000 Euro sind davon für den laufenden Spielbetrieb, an dem sechs Mannschaften von der Bundesliga bis zur Jugend teilnehmen“, rechnet Müller vor.

Den Großteil davon verschlingt die achtköpfige Bundesliga-Mannschaft. Doch nicht etwa wegen der Antrittsgelder oder Siegprämien. Es sind die Reisekosten in der Liga, dem Pokal, Weltpokal und der Champions League, die die Kasse leeren. „Unsere Spieler treten für lau an. Nicht einmal für den Titel oder den Sieg im Weltpokal gibt es etwas. Einzig der Aufwand für An- und Abreise zum Wettkampf sowie Hotel und Verpflegung werden rückerstattet“, erklärt Müller.

Die Motivation von Hoffmann & Co., die reine Amateure sind und an ihren Heimatorten dreimal in der Woche eigenständig trainieren, ist ideeller statt materieller Natur. „In unserem Sport kann keiner reich werden. Aber darum geht es auch nicht“, betont Timo Hoffmamn. „Wer sauberen Sport macht, der will vor allem erfolgreich sein und Titel gewinnen.“ Der SKV sei von den Strukturen her die absolute Nummer eins. „So einen top-organisierten Verein, wo jeder seine Aufgabe hat und alle an einem Strang ziehen, gibt es nirgendwo in Deutschland“, begründet der 48-jährige Kapitän, warum er und seine Mitspieler, davon zwei aus Slowenien, freiwillig Tausende Kilometer mit dem Auto auf der Piste sind, die Hälfte ihrer Urlaubstage opfern, oder 45 Wochenenden im Jahr unterwegs sind – nur, um für den SKV Zerbst die Kohlen aus dem Feuer zu holen.

Lothar Müller sieht indes in dem persönlichen Engagement eines jeden Einzelnen im Verein und dem anhaltenden Erfolg beim Tanz auf vier Hochzeiten den Beweis dafür, dass das Kegeln in Zerbst lebt. „Unser Sport stirbt erst dann, wenn man nicht bereit ist, Risiko einzugehen und in die Infrastruktur zu investieren. Wir haben 200.000 Euro in die Hand genommen, um alles in Schuss zu bringen.“ Und wenn er sich in seiner Ruhmeshalle so umschaut, dann weiß der Präsident, dass sich all die Mühen und Kosten gelohnt haben. „Ich bin unheimlich stolz auf das, was wir alle gemeinsam erreicht haben.“