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Kindesmissbrauch Mehr Gewalt gegen Kinder in Sachsen-Anhalt

Die Zahl der Gewalttaten in Sachsen-Anhalt gegen Kinder ist auf knapp 2000 Fälle gestiegen.

Von Matthias Fricke 27.07.2020, 01:01

Magdeburg l Die Zahl der Gewalttaten gegen Kinder ist in den vergangenen drei Jahren von 1857 auf knapp 2000 Fälle gestiegen. Für 15 Opfer endete in dieser Zeit das Martyrium tödlich. Besonders dramatisch stiegen die Sexualstraftaten an Kindern: von 511 auf 590 Fälle.

Der aktuellste Fall von Gewalt an Kindern hat erst vor einigen Tagen bundesweit für Erschütterung gesorgt: Das Schicksal des zweijährigen Tim berührt noch immer nicht nur die Menschen in Querfurt im Saalekreis. Erst am Sonnabend gedachten Hunderte bei einer Mahnwache des Jungen. Für ihn war am 11. Juli jede Hilfe zu spät gekommen, als der Rettungsdienst in der Wohnung seiner 36-jährigen Mutter eintraf. Der Körper des Jungen wies zahlreiche Verletzungen, Spuren von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch auf. Rechtsmediziner stellten in der Obduktion massive Schläge gegen den Kopf und Körper fest.

In Verdacht des sexuellen Missbrauchs und der gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge steht ein 30-jähriger Freund der Mutter, der als Drogenkonsument bekannt ist. Die Frau selbst soll sich wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen verantworten. Das Paar befindet sich weiter in Untersuchungshaft, sagt Staatsanwalt Klaus Wiechmann. Es werden aktuell noch Details zusammengetragen, um spätestens in sechs Monaten Anklage vor dem Landgericht Halle erheben zu können.

Erst zwei Jahre zuvor war ein anderer schwerer Fall vor Gericht. Das Urteil gegen eine 48-Jährige aus Benndorf (Mansfeld-Südharz) ist inzwischen rechtskräftig, so Halles Landgerichtssprecher Wolfgang Ehm. Die Frau hatte ihre beiden Säuglinge umgebracht und jahrelang in einer Tiefkühltruhe aufbewahrt. Sie muss nun eine Haftstrafe wegen Totschlags in zwei Fällen von neuneinhalb Jahren absitzen.

Die Mutter räumte ein, bereits 2004 ihr erstes Kind in der Badewanne geboren und sofort in eine Plastiktüte gepackt und getötet zu haben. Das zweite Kind entband sie 2008 auf der Toilette, versteckte es im Wäschekorb und packte es später in die Truhe. Die Obduktion der Babys, ein Junge und ein Mädchen, ergab, dass beide voll lebensfähig waren.

Gewalt gegen Kinder unter 14 Jahren kommt inzwischen immer häufiger ans Tageslicht. Das ergibt die Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Landtagsabgeordneten Eva von Angern und Henriette Quade. Danach stiegen die Gewalttaten an Kindern unter 14 Jahren von 1857 Fällen im Jahr 2017 auf 1957 im vergangenen Jahr.

 Noch erschreckender ist der Zuwachs an Sexualstraftaten gegen Kinder. Sie stiegen von 511 auf 590 im vergangenen Jahr. Den Hauptteil machen 514 Fälle des sexuellen Missbrauchs aus. Diese Straftaten stiegen von 470 auf 514. Das entspricht der bundesweiten Entwicklung: Hier stiegen die Zahlen von 12.321 auf 13.670.

„Das sind alarmierende Zahlen“, so die Abgeordnete von Angern. Sie sagt: „Wir müssen uns bewusst vor Augen halten, dass es sich bei diesen Zahlen nur um die bekannten Fällen handelt. Das Dunkelfeld ist wahrscheinlich viel größer.“

Vor allem die Straftaten im familiären Nahbereich sind von 97 auf inzwischen 129 Sexualstraftaten angestiegen. Die Entwicklung bestätigt auch Michael Klocke vom Landeskriminalamt (LKA): „Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird vergleichsweise selten von fremden Tätern verübt. Sie erfahren Gewalt in ihrem sozialen Umfeld: Zuhause, in der Schule oder im Verein.“ Und dort bleibe der Missbrauch dann oft lange unbemerkt.

Laut Antwort der Landesregierung auf die Anfrage waren von den 663 Opfern im vergangenen Jahr 594 im Alter zwischen sechs und 13 Jahren. Von den 663 Tatverdächtigen kamen 165 aus der eigenen Familie und 212 aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. 47 Personen hatten eine formelle soziale Beziehung zum Opfer.

Dramatisch auch die Entwicklung bei der Kinderpornografie: Von den Staatsanwälten und Kriminalisten wird diese oft als „Einstiegsdroge“ zum sexuellen Missbrauch an Kindern bezeichnet. Die Zahl solcher Fälle von „Herstellung und Verbreitung von kinderpornografischen Schriften“ ist vom Jahr 2017 mit 183 Fällen auf 346 im Jahr 2019 gestiegen. Die Sicherstellungsmengen sind enorm. Im Jahr 2019 mussten bereits 105 Tera­byte Dateien ausgewertet werden. Das entspricht einem Volumen von mehr als 26 Millionen Fotos.

Im Rahmen der frühen Hilfe sind im Land etwa 60 Gesundheitsfachkräfte im Einsatz, die rund 500 Familien im Jahresdurchschnitt begleiten. Knapp 3600 Verdachtsfälle von Kindswohlgefährdung haben die Jugendämter im Jahr 2019 geprüft. Die Zahl stieg um 300 Fälle. Seite 4