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Kita-Debatte Bogerts: „Betreuungsgeld war sinnvoll“

Ein Magdeburger Professor warnt vor gesundheitlichen Folgen, wenn Kinder zu früh eine Krippe besuchen.

08.08.2016, 23:01

Volksstimme: Sachsen-Anhalt hat die höchste Betreuungsquote in Deutschland: Knapp zwei Drittel der Kinder unter drei Jahren besuchen eine Kinderkrippe. Sie sehen das skeptisch. Warum?

Bernhard Bogerts: Man muss die Vor- und Nachteile des Krippenwesens sachlich abwägen. Zunächst ist die Idee einer möglichst frühen Förderung intellektueller und sozialer Fähigkeiten aller Kinder, auch solcher aus sozial schwierigeren Verhältnissen, wie auch die Möglichkeit einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie sehr begrüßenswert. Andererseits zeigen die vielfach bestätigten Ergebnisse der Bindungsforschung, dass die wichtigste Voraussetzung für eine stabile psychische Gesundheit von Kindern eine kontinuierliche, frühe, positive und intensive Eltern-Kind-Beziehung ist. Besonders wichtig sind die ersten drei Lebensjahre und dabei vor allem das erste Lebensjahr, da die emotionale Prägung der späteren Persönlichkeit dann am ausgeprägtesten ist.

Worauf führen Sie das zurück?

Es gibt mehrere umfangreiche Studien, die Krippenkinder mit Kindern vergleichen, die von Geburt bis zum dritten Lebensjahr von ihren Eltern betreut wurden. Diese Untersuchungen weisen übereinstimmend nach, dass zwar hinsichtlich der Entwicklung in den ersten Lebensjahren keine Unterschiede feststellbar sind – sprachlich, sozial und motorisch entwickeln sich Krippen- und Familienkinder nahezu gleich. Erstaunlich ist aber, dass es bei einem bedeutenden Anteil der Krippenkinder später – also mit sechs, sieben, acht Jahren – eine höhere Rate an psychischen Störungen, Angsterkrankungen, aggressiven und depressiven Verhaltensweisen gibt. Die Gruppenunterschiede sind im Krippenalter selbst noch nicht sichtbar, sondern erst in späteren Altersstufen.

Kinder, die länger in der Familie betreut werden, haben also eine höhere Chance für eine gesunde emotionale Entwicklung als Krippenkinder?

Nach den erwähnten Untersuchungen trifft das, statistisch betrachtet, so zu, zumindest für die ersten Lebensjahre, wobei eine intakte und zuwendungsvolle Eltern-Kind-Beziehung Voraussetzung ist.

Wie wird das gemessen?

Einerseits durch Befragung der Eltern und Erzieher, andererseits durch Bewertung des kindlichen Verhaltens durch die Forscher selbst. Kinder, die schon das erste Lebensjahr viele Stunden pro Tag in einer Krippe sind, stehen nach der Trennung von den Eltern unter Stress. Das belegen andere Studien, mit denen das Stresshormon Cortisol gemessen wurde. Dieses kann bei Kindern auch im Speichel bestimmt werden. Je früher die Kinder in eine Einrichtung gehen, desto höher ist häufig der Cortisol-Spiegel. Eine dauerhafte Erhöhung dieses Stresshormons kann sich negativ auf die psychische Entwicklung und die Ausreifung bestimmter für Emotionen relevante Areale des Gehirns auswirken.

Viele Familien sind aber aus wirtschaftlichen Gründen auf Krippen angewiesen.

Ich bin keinesfalls gegen Krippen oder Kindergärten. Die Grundidee ist ja sehr positiv: insbesondere wenn die finanzielle Situation der Eltern das notwendig macht oder beruflicher Selbstverwirklichung Priorität eingeräumt wird. Für Alleinerziehende gibt es ja gar keine Alternative. Die Studien zeigen auch, dass die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung für die emotionale Stabilität des Kindes bei weitem der wichtigste Faktor ist, unabhängig davon, ob das Kind zu Hause oder in einer Krippe betreut wurde. Aktuell dreht sich die Krippen- und Kita-Diskussion in Sachsen-Anhalt aber leider ausschließlich um die Finanzierung. Der Aspekt der späteren emotionalen Gesundheit der Kinder kommt nach meiner Auffassung dabei zu kurz – wohl auch deshalb, weil die Ergebnisse der Studien kaum bekannt sind.

Eltern, die es sich leisten können, sollten ihr Kind also länger Zuhause betreuen als es in eine Krippe zu geben?

Die Entscheidung der Eltern hierüber sollte die möglichen Langzeiteffekte für die Kinder nach Krippenbetreuung in den ersten zwei bis drei Lebensjahren im Auge behalten. Aber Krippenbetreuung ist nur einer von mehreren Aspekten, die für die psychische Entwicklung des Kindes relevant sind. Eine übereinstimmende Aussage aller Untersuchungen zu dieser Thematik ist ebenfalls, dass auch die Politik gefordert ist, familiäre Betreuung stärker zu unterstützen. Familienministerin Manuela Schwesig hat mit dem Familiengeld gerade ein neues Modell vorgeschlagen: Wenn Vater und Mutter die Arbeitszeit reduzieren, gibt es einen staatlichen Ausgleich. Das geht in die richtige Richtung. Auch das Betreuungsgeld war ein sinnvolles Instrument.

Das Bundesverfassungsgericht hat es gekippt.

Ja, aber nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern weil der Bund dafür nicht zuständig ist. Bayern und Sachsen machen das nun selbst mit einem Landeserziehungsgeld. Je mehr Eltern sich für eine Kindesbetreuung in der eigenen Familie entscheiden können, desto geringer wird der notwendige finanzielle Aufwand für Kinderkrippen. Ich meine, dass seitens der Politik eine ausgewogenere Verteilung der Mittel zur Förderung familiärer Erziehung einerseits und Krippenbetreuung andererseits zu erwägen wäre. Ob diese Meinung auch politisch mehrheitsfähig sein könnte, sei mal dahingestellt.

In Deutschland wird der Fokus auf frühkindliche Bildung gelegt. Ist das der falsche Ansatz?

Nein, das ist ein richtiger Weg. Dass soziale, sprachliche und motorische Fähigkeiten in den Kitas gefördert werden, ist selbstverständlich notwendig. Die kognitive und intellektuelle Entwicklung ist aber nur ein Aspekt. Der zweite ist die Entwicklung einer emotional ausgeglichenen Persönlichkeit. Aus meinem beruflichen Erfahrungshorizont muss ich sagen, dass diese Komponente mindestens genauso wichtig ist wie frühkindliche Bildung.