1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Ältester Kindergarten steht in Zörbig

Kita-Geschichte Ältester Kindergarten steht in Zörbig

Zörbig im Landkreis Anhalt-Bitterfeld hat den ältesten durchgängig betriebenen Kindergarten Deutschlands. Er ist 170 Jahre alt.

Von Mandy Ganske-Zapf 17.07.2016, 05:00

Zörbig l Sie kreischen, kichern, kriechen, und die jahrhundertealte Stadtmauer steht an der Wiese, als wache sie über die Kinder der Kita Rotkäppchen. Unter der Mittagssonne tummeln sie sich auf der Wiese der Zörbiger Einrichtung. Celine erklimmt die Rutsche. Leon schnappt sich eine Decke, die er nach eingehender Prüfung an geeigneter Stelle niederlegt, um sich wie ein Eroberer draufzusetzen. Vor dem Toben haben sie schon gebastelt. Bei Milo ist ein Krokodil dabei herausgekommen. Er lächelt, als er davon erzählt.

Diese Zeit, diese zwei, drei, vier Jahre im Kindergarten sind gemessen an der Lebensspanne eines Menschen so kurz, dass kaum jemand später erzählen kann, was er eigentlich genau erlebt hat. Zumal in so jungen Jahren. Der Alltag als Kleinkind schrumpft im Gedächtnis der späteren Erwachsenen zu Bild- und Tonfetzen von quasselnden Stimmen, Förmchen im Sand und Fangespielen. So wird es auch bei Celine, Leon und Milo sein.

Tage eines Alltags, wie er heute so oder so ähnlich überall in Kindertagesstätten zu finden ist. Mit der Besonderheit, dass hier auf eine lange Geschichte zurückgeblickt werden kann. Auf 170 Jahre ununterbrochenen Betrieb. Das ist einzigartig in Deutschland. Heike Stenschke packt einen Ordner auf den Tisch des winzigen Erzieherbüros im raufasertapezierten Dachgeschoss.

Eine Chronik der Ereignisse, Kopien, Ausschnitte und Fotos aus den Jahrzehnten. Besondere Höhepunkte im Jahr sind das Sommer- und das Weihnachtsfest, sagt Heike Stenschke, und blättert durch die abgehefteten Erinnerungen mit den zahlreichen Kindergesichtern. Sie leitet das Haus seit vier Jahren. Etwa ein Viertel der heutigen Eltern sei hier selbst einmal als Kind gewesen, sagt sie. Viele von ihnen hat sie betreut.

Sie kennt David Landgraf noch als kleinen Jungen mit denselben dunklen, strahlenden Augen, wie sie Sohn Milo jetzt hat, vom ersten Praktikum im Jahr 1986. Der Antrag in der DDR, nach der Ausbildung als Erzieherin in Zörbig eingesetzt zu werden, ging durch. Sie blieb in ihrer Heimat, und auch ihr Sohn konnte in diese Kita gehen. Neben der Kita Rotkäppchen, die seit 20   Jahren in Trägerschaft der Johanniter ist, gibt es noch das Haus „Max und Moritz“ in Zörbig, in den umliegenden Ortschaften sieben weitere Kindertagesstätten. Insgesamt zählt die Stadt Zörbig heute rund 10   000 Einwohner.

Die Kita liegt in einer Gasse der Altstadt und zwei Straßenecken entfernt von einem dicht befahrenen Kreisverkehr, der Abzweige nach Köthen, Halle und Sandersdorf ausweist. Vielleicht ist es die Stadtmauer, vor der die Kinder an diesem sonnigen Mittwoch gerade auf und ab rennen, die den Verkehrslärm vom Kitahof fernhält. Durch die Jahrzehnte war sie stets eine hübsche Kulisse. Unzählige Kindergartengruppen wurden vor dieser Mauer fotografiert. Als alles noch strenger zuging, als alles moderner wurde, und heute.

Wenige Tage vor dem Gründungsdatum, damals im Jahr 1846, wehte ein Hauch Prominenz durch Zörbig. Der Reformpädagoge Friedrich Fröbel war zu Gast. Fröbel war ein Vordenker. Er wollte Kleinkinder schon vor Beginn der Schule spielerisch bilden, anstatt sie nur zu verwahren. Für die damalige Zeit war das eine revolutionäre Idee. Würfel, Walze und Kugel sind das charakteristische Holzspielzeug, das er zu diesem Zweck erfand.

Der Begriff „Kindergarten“ kommt von ihm. Weil es ein Garten zum Wachsen und Gedeihen sein sollte. Bis dahin war von „Kinderbewahranstalten“ die Rede. Als solche wurde die Einrichtung in Zörbig schließlich begründet. Daran konnte auch Fröbels Besuch im Vorfeld nichts mehr ändern.

Er war nur zufällig in der Nähe, bei einem befreundeten Pastor im benachbarten Dorf. Als er angefragt wurde, sagte er nicht „Nein“ und kam mit drei seiner Schülerinnen nach Zörbig, um die Ideen für einen Kindergarten zu präsentieren. So zumindest hat es ein Aufsatz aus den 1950er Jahren rekonstruiert, auch wenn es gemeinhin heißt, Fröbel sei zur Eröffnung selbst in der Stadt gewesen. Am Ende sangen sie mit den Zörbiger Kindern Lieder. Seiner Zeit war er oft voraus. Dass der Begriff „Kindergarten“ schließlich sogar in Fremdsprachen übernommen werden sollte - späterer Tribut.

Die Entscheidung zur Bewahranstalt und gegen einen Kindergarten in Zörbig schreibt Brigitta Weber der Sturheit des damaligen Superintendenten zu. Die Leiterin des Heimatmuseums hat die alten Akten und Schriften zum Kindergarten genau studiert. Das Museum ist auf dem Schlosshof angesiedelt, etwa zehn Gehminuten von der Kita entfernt.

Brigitta Weber führt über die sorgsam gepflegten Dielen zur kleinen Sonderausstellung, die sie anlässlich des Jubiläums gefertigt hat. Drei Stellwände, daneben Glasvitrinen. Fotos, Texte, Bauklötzer, Bastelmuster und Lehrmaterialen aus dem frühen 20. Jahrhundert sind wohlsortiert zu finden. Womöglich sei es Statusdenken beim Superintendenten gewesen, vielleicht Neid, erklärt sie weiter. Darauf, dass ein anderer die Idee für den Kindergarten hatte, nicht er selbst.

Brigitta Weber beschäftigt sich seit 25 Jahren ehrenamtlich mit der Zörbiger Geschichte, für die Sonderschau hat sie sich ins Stadtarchiv hineingekniet. Weil sich beim Kuratorium für die neu zu gründende Einrichtung also noch die „Kinderbewahranstalt“ durchsetzte, konnte sie kein offizielles Fröbel-Haus werden. Etwas, das es andernorts zur der Zeit gab und wo Fröbels Lehren oberstes Gebot waren.

Dass seinerzeit immerhin die Betreuung ermöglicht wurde, war der Initiative von Zörbiger Ärzten und engagierten Bürgern zu verdanken. Sie hatten erkannt, wie wichtig so etwas für die Kinder ist. „Weil sehr viele Frauen auch in der Landwirtschaft arbeiten mussten“, erzählt Brigitta Weber. „Damals begann in dieser Gegend der Zuckerrübenanbau.“ Es war die Zeit der Industrialisierung, Fabriken wurden gebaut, Eltern gingen ganztags in die Werkhallen oder aufs Feld.

So war es auch der Nachlass eines Zörbiger Arztes, in dem Geld eigens für den Bau eines ganzen Hauses zum Wohle der Kinder vorgesehen war. Ein Jahrzehnt nach der Gründung zogen die Kleinen aus den Räumen einer Schneidermeisterwohnung in den errichteten Neubau, mit dem Hof hintendran.

Als Erzieherin wirkte viele Jahre eine junge Frau, die vor ihrem Arbeitsantritt im Fröbel’schen Sinne ausgebildet worden war. „Sie war seine Schülerin und hat mit Sicherheit nicht gegen Fröbel gearbeitet“, sagt Brigitta Weber. So kam Fröbel durch die Hintertür doch noch zu den Kindern von Zörbig.

Zu Beginn waren bis zu 40 Jungen und Mädchen in Betreuung. Heute sind es doppelt soviele im Alter von null bis sechs Jahre. Das Haus ist im Großen und Ganzen das gleiche geblieben. Selbstverständlich wurde modernisiert. Sonst ist lediglich die Fassade in frisches Zitronengelb getaucht, auf dem Dachboden wohnt schon lange kein Hausmeister mehr, und die Eingangstür auf der Rückseite des Gebäudes wurde versetzt, erzählt Heike Stenschke, während sie weiter durch die Chronik blättert.

Noch immer wachsen Generationen in der Obhut ihres Teams mit aktuell 13 Erziehern auf. Am 6.   August 2016 ist der 170. Geburtstag. Groß gefeiert haben sie schon im Mai – mit historischem Festumzug, und alle Kinder waren dabei. „Halb Zörbig war auf den Beinen.“

Heike Stenschke schaltet noch den Computer ein und klickt durch die Bilderalben mit den Eindrücken vom Festtag. Jede Kindergruppe hatte einen Auftritt mit eingeübtem Programm. Fröbel hätte sicher seine Freude an der Feier gehabt. Auch der kleine Milo von Zörbiger David Landgraf war im Umzug zu sehen. Eine schöne Erinnerung, der Papa wird sie für ihn bewahren.