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Krankheit Ein Leben zwischen Bangen und Hoffnung

Auch in Sachsen-Anhalt gibt es Krankheiten, die sehr selten sind. Gerade das stellt Ärzte oft vor ein großes Rätsel.

Von Janette Beck 28.02.2018, 00:01

Haldensleben/Elbeu l Ein leises Röcheln ist zu hören. Da, inmitten bunter Kuscheltiere, liegt Louis. Sein kleiner Körper zuckt so heftig, als wäre er im Traum eine Treppe heruntergefallen. Die großen, blauen Augen starren an die Zimmerdecke. Eine Träne bahnt sich den Weg aus seinem Augenwinkel – sie ist künstlich. Louis kann nicht weinen.

Der Fünfjährige leidet an einer unheilbaren Krankheit. Sie ist noch so jung, dass sie keinen Namen hat. Bisher sprechen die Mediziner von einem „NGLY1-Mangel“. Es handelt sich um eine Genmutation. Bei gesunden Menschen ist das NGLY1-Gen dafür zuständig, dass die Zellen ein bestimmtes Enzym bilden. Diese entsorgen mit Hilfe von Proteinen fehlerhafte Zellbestandteile im Körper – der körpereigene Müll wird also entsorgt. Bei kranken Menschen ist diese Reinigung der Zellen nicht möglich. Deswegen sammeln sich die Schrotteiweiße in den Organen an und schädigen sie.

Dabei kam Louis als scheinbar gesundes Kind zur Welt, im Mai 2012. „Die Schwangerschaft verlief normal. In seinen ersten Lebenstagen merkte ich jedoch, dass etwas nicht stimmt“, sagt Sandra Arnold, die mit ihrem Partner Karsten Liebe damals noch in Berlin wohnte. Louis war unruhig, wollte nicht trinken und schrie bis zu 15 Stunden am Tag. Seine Mutter war hilflos: „Er ließ sich einfach nicht beruhigen. Die Ärzte sagten mir, dies würde sich nach den ersten drei Monaten legen.“ Im vierten Monat glaubten sie ihr.

Es begann ein Krankenhaus-Marathon. Immer wieder mussten Sandra Arnold und Karsten Liebe ihren Sohn in medizinische Hände geben. Blutentnahmen, Lumbalpunktion, Untersuchungen – gefunden wurde nichts. Louis schrie weiter, die Eltern eilten weiter von Arzt zu Arzt. Nach einem dreiviertel Jahr zog die Familie zurück nach Haldensleben, in Sandra Arnolds Heimat. Dort konnte ihre Mutter die Familie unterstützen. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“, sagt sie heute.

Doch auf eine Diagnose mussten die Eltern noch zwei lange Jahre warten. Eine Studie aus Berlin, an der die junge Familie bereits in den ersten Lebensmonaten von Louis teilgenommen hat, bringt kurz vorm dritten Geburtstag die Gewissheit: NGLY1-Mangel. „Das sagte uns als Laien natürlich nichts. Aber man hat einen Gegner, gegen den man kämpfen kann“, sagt Karsten Liebe.

Durchbruch für die Diagnose war das auffälligste Symptom der seltenen Erkrankung: Louis ist ein Kind ohne Tränen. Sein Körper produziert keine Tränenflüssigkeit. Deswegen ist die Träne in seinem Gesicht künstlich – sie stammt von Augentropfen. „Das ist ein Schlüsselsymptom. Dass Kinder nicht weinen, ist besonders selten“, sagt Dr. Peter Möller, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde am Zentrum für Entwicklungsdiagnostik und Sozialpädiatrie (ZEUS) in Wolfsburg. Er behandelt Louis seit dessen erstem Lebensjahr und koordiniert die Therapien. „Louis hat schwerste geistige Behinderungen und körperliche Ausfälle durch die Krankheit, die wir nicht beheben können“, so Möller. Dass Louis‘ Körper ständig zuckt, liegt an einer schweren Epilepsie und Bewegungsstörung – dagegen helfen keine Medikamente. Der Fünfjährige ist immer in Bewegung, auch wenn er im Bett liegt.

Louis kann nicht laufen, nicht sitzen, nicht hören – und er ist blind. Seine Umwelt kann er so gut wie gar nicht wahrnehmen. Für seine Eltern ist vor allem eines schwer: Ihr Sohn spricht nicht. „Wir können zwischen seinen Lauten unterscheiden und die Mimik und Gestik deuten“, erklärt die Mutter. „Aber er kann uns nicht sagen, ob er traurig oder glücklich ist, ob er Schmerzen hat oder nur Hunger hat.“

1:4 – das war die Wahrscheinlichkeit, dass die unentdeckten Gendefekte der klinisch gesunden Eltern zu dem schwerwiegenden Mangel im Körper führen. „Natürlich stellt man sich anfangs die Frage: Warum wir? Das frage ich mich heute manchmal noch“, sagt Sandra Arnold. Die kleine Familie hat durchgehalten und ist in ihre Rolle hineingewachsen. Für Sandra Arnold bedeutete das, ihren Beruf aufzugeben. Sie ist nun rund um die Uhr für Louis da. Ihr Partner ist im Straßenbau tätig und teils tagelang unterwegs.

An Therapieansätzen sowie einer Heilung für die noch recht junge Krankheit tüfteln etwa 50 renommierte Wissenschaftlergruppen weltweit. Sie forschen unter anderem an Substanzen, die in den Zellstoffwechsel eingreifen und dafür sorgen könnten, dass das fehlende Enzym vom Körper produziert wird. Am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg experimentiert der deutsche Genforscher Lars Steinmetz an der komplizierten Lösung – seit der ersten Stunde. „Das komplizierte ist, dass wir für eine Heilung in den Zellprozess eingreifen müssen und zum Beispiel Genkorrektur vornehmen müssten", sagt er.

Lars Steinmetz erforscht seit 2013 die Funktionsweise des fehlerhaften NGLY1-Gens, um therapeutische Ansätze zu finden. Die Forschungen hätten gezeigt, dass Verbindungen zu anderen Krankheiten wie Parkinson oder bestimmten Krebsarten bestehen. Doch heilen können die Forscher die Krankheiten noch nicht, „dafür müssen wir die biologischen Prozesse besser verstehen".

Für Louis kommt die Hoffnung auf Heilung zu spät, zu viel ist in dem kleinen Körper bereits zerstört. Seine Eltern sprechen unermüdlich mit ihrem Sohn – ob die Worte bei ihm ankommen, wissen sie nicht. Die seltenen Male, in denen Louis lacht, bleiben den Eltern im Gedächtnis. Für ihren Sohn bleiben sie stark: „Dass Louis vorzeitig sterben wird, wissen wir. Wir wünschen uns aber, dass er noch so lange wie möglich bei uns bleiben kann.“

Verunsichert schaut Joshua bei der Begrüßung zu den Eltern Christian (42) und Melanie (34), während er die linke Hand gibt, auf dem Boden lümmelt und seine Therapiehündin „Pepsi“ umarmt. Der schnuppert neugierig und wedelt mit dem Schwanz. Für sein kleines „Herrchen“ das klare Signal: „Alles okay, Kumpel! Entspann dich!“

Auch wenn seine Mutter sagt: „Wir haben ein Kind mit besonderem Gepäck.“ – Auf dem ersten Blick ist Joshua ein ganz normaler Junge und unterscheidet sich kaum von anderen Siebenjährigen. Na ja, ein wenig zu blass um die Nase ist er vielleicht, und sehr schlank. Aber sonst? Davon, dass der kleine Elbeuer an dem höchst seltenen, unheilbaren „Kinder-Pakinson“ leidet – die Experten sprechen von einer atypischen Phenylketonurie (PKU) – ist nichts zu merken.

Die vielen Medikamente, die den genetischen Enzymdefekt auszugleichen versuchen, zeigen ihre Wirkung. Und so ist es eben schwer vorstellbar, dass sich der körperliche, geistige und seelische Zustand des Jungen binnen kurzer Zeit ändern kann. Dann zeigt er autistische Züge, ist schwach und zittrig, kann nicht mehr gehen, wird auto-aggressiv. Oder er bekommt extrem hohes Fieber, speichelt stark und liegt apathisch im Bett. Dann ist Joshua traurig, hadert mit seinem Schicksal, „besonders“ zu sein, und nur Pepsi kann seinen Weltschmerz lindern.

Joshua war eine drohende Frühgeburt. Wochenlang lag seine Mutter in der Klinik. Als es so weit war und das Kind mit 2400 Gramm das Licht der Welt erblickte, war es wegen einer geschlossenen Fruchtblase blau angelaufen. „Es ging sofort auf die Intensivstation“, blickt die Mutter zurück. Wie bei ihrem ersten Sohn auch, entschieden sich die Eltern - beide im Behindertenbereich tätig: Sie als studierte Heilpädagogin, er als Betreuer in einer Wohngruppe - im Rahmen des Neugeborenen-Sceenings zu einer Fersenblut-Untersuchung. „Nach zwei Tagen war ein Eiweißwert so auffällig, dass es hieß: Hier liegt eine spezielle Stoffwechselkrankheit vor.“

Zunächst deutete alles auf eine „normale“ Form der PKU hin, bei der sich im Körper ein bestimmter Eiweißbestandteil anreichert. Eins von 10.000 Kindern kommt mit dem Gendefekt zur Welt, der in erster Linie die Entwicklung des Gehirns stört. Wird der Defekt rechtzeitig erkannt und konsequent behandelt, entwickeln sich die betroffenen Kinder völlig normal. „Wir hatten uns informiert: Die einzige wirksame Therapie gegen die PKU ist eine lebenslange phenylalaninarme Diät. Und wir dachten: Kein Ding, unser Großer hat Laktose- und Fructose-Intoleranz, da kommt eben noch ein drittes Fach im Kühlschrank dazu – eines mit spezieller, eiweißarmer Nahrung“, erinnert sich Melanie Kahlo. „Doch als wenig später der Verdacht aufkam, dass es sich bei unserem Sohn um eine seltene Form der Stoffwechselkrankheit handelt, wurden wir doch extrem nervös. Wir wussten nicht, was uns erwartet.“

Drei Wochen nach der Geburt bestätigte sich nach einer Analyse der Rückenmark-Flüssigkeit der Verdacht, dass es sich bei Joshua um eine atypische PKU handelt. „Der Junge leidet an einem sogenannten PTPS- Mangel, der zu parkinson-ähnlichen Symptomen führt. Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung liegt bei 1:1.000.000“, erklärt Professor Thomas Opladen, der sich an der Uni Heidelberg seit fünf Jahren um die Familie aus Elbeu kümmert.

„In Europa gibt es 300 bekannte Fälle. In Deutschland leben 40 Patienten mit atypischer PKU – der älteste ist 40 Jahre.“ Wiederum sieben Kinder seien vom Krankheitsbild dem von Joshua ähnlich. Dennoch verlaufe die Krankheit bei jedem unterschiedlich. Das mache die Sache so schwer und Vernetzung der Betroffenen und Experten untereinander so wichtig, so Opladen, der eine Selbsthilfegruppe initiiert hat. Dieser Erfahrungsaustausch sei enorm wichtig, so der Professor. „Gerade auch bei der Dosierung der Medikamente, die ja eigentlich nur für Erwachsene mit Parkinson sind und jedem einzelnen kleinen Patienten individuell angepasst werden müssen.“

Was Kinder-Parkinson tatsächlich bedeutet, wie kompliziert, stringent organisiert und pflegeintensiv sich ihr Leben gestalten und dass Joshua sein Leben lang auf Medikamente angewiesen sein wird, war Familie Kahlo zum Zeitpunkt der Diagnose völlig unklar: „Du stehst erstmal da und denkst: Warum mein Kind. Warum wir?“, erinnert sich Mutter Melanie an die Schockstarre, die noch zunahm, nachdem sich herausstellte, dass sie und ihr Mann „eins zu eins Erbträger und wir damit quasi selbst schuld an Joshuas Erkrankung waren“. Und Christian Kahlo gesteht: „Du fühlst dich so hilflos und schuldig, eben weil es sich um eine sehr seltene, vererbte Krankheit handelt. Und da nimmt dich keiner an die Hand und sagt: Das hilft, das nicht. Dort kannst du dich hinwenden, hier findest du Betroffene.“

An der Uni in Magdeburg versuchte Prof. Dr. Klaus Mohnike, Kinderarzt und inzwischen Leiter des Mitteldeutschen Kompetenznetzes Seltene Erkrankungen, Joshua und seinen Eltern so gut es ging zur Seite zu stehen. Er war es auch, der den Kontakt zu Professor Opladen in Heidelberg herstellte. „Ein Glücksfall für uns“, betont Melanie Kahlo. „Von da an ging es, wenn auch manchmal nur in Mini-Schritten, bergauf und wir fühlten uns und mit unseren Ängsten und Nöten nicht mehr so allein und hilflos.“

Sieben Jahre nach der Schock-Diagnose haben die Kahlos „in höchst bewundernswerter Eigeninitiative“, wie Professor Opladen findet, ein stabiles Netzwerk geknüpft, das Joshuas Alltag erträglich macht – angefangen von der Hausärztin über die Physiotherapie und Logopädin bis hin zu den verständnisvollen Lehrkräften und Schwestern an der Körperbehindertenschule in Tangerhütte. Und so nimmt man es Melanie Kahlo, ohne daran zu zweifeln, gerne ab, wenn sie sagt: „Wir haben uns das nicht ausgesucht und klar, Johuas Leben, unser Leben, ist wahrlich kein einfaches, aber trotzdem möchte ich keinen einzigen Tag missen.“