1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Zwei Fäuste gegen die Krankheit

Krebsbekämpfung Zwei Fäuste gegen die Krankheit

Die 39-jährige ehemalige Box-Weltmeisterin Esther Schouten hilft in Sachsen-Anhalt Frauen beim Kampf gegen den Krebs.

Von Janette Beck 04.10.2017, 01:01

Magdeburg l Es ist Kaffeepause beim Bundeskongress der FSH im Magdeburger Maritim-Hotel. Im Foyer wuselt es nur so von Frauen, die die gleichen Tücher tragen. In Grün, der Farbe der Hoffnung. Die Lebensfreude ringsherum ist förmlich greifbar. Und sie steht im krassen Kontrast zu dem todernsten Thema, das die rund 500 Kongressteilnehmer an diesem Ort zusammenführt: Krebs.

Esther Schouten steht in der Pianobar des Hotels, umringt von „Selfie-Jägerinnen“. Sie wirft ein Handküsschen zu ihrem Verlobten hinüber und lächelt. Nein, sie strahlt förmlich unter dem überdimensionalen roten Boxhandschuh an der Wand. Sylvia Brathun, die Bundesvorsitzende der FSH, ist selbst ganz fasziniert von „ihrer“ Botschafterin: „Esther ist ein echter Glücksgriff. Ich bin so froh, dass ich bei meiner Recherche nach Sportlern, die an Krebs erkrankt waren, auf sie gestoßen bin. Dazu noch der Magdeburger Bezug. Perfekt.“ Ein Anruf bei ihr hätte genügt. „Sie war sofort Feuer und Flamme. Jetzt sehe ich, sie hat genau die Leuchtkraft, die ich mir für unsere Organisation und unsere Frauen erhofft habe.“

Immer wieder werden die Handys gezückt. Das Fotomotiv ist immer gleich: Esther Schouten lacht und nimmt die typische Boxer-Pose ein. Bereit zum Kampf. Zwei Fäuste gegen einen imaginären Gegner – den Krebs.

Als Esther Schouten mit der Volkskrankheit konfrontiert wurde, war sie 29. Und es war wie ein K.o.-Schlag, der sie in die Knie zwang: „Es riss mir erst einmal den Boden unter den Füßen weg“, schaut sie zurück. „Mir wurde heiß und kalt. Mir war schlecht“, nachdem ihr die Hämatologin das Ergebnis der PET-Untersuchung – eine medizinische Diagnosemethode, die Stoffwechselprozesse im Körper sichtbar macht – überbrachte. Dabei war sie vorgewarnt. Die Ärztin hatte am Telefon gesagt: „Sie sind sehr, sehr krank“ und zum Gespräch ins Krankenhaus gebeten.

„Erst versuchte sie, es mir schonend beizubringen. Doch dann habe ich die Ärztin gebeten, das Kind beim Namen zu nennen.“ Hodgkin-Lymphom – bösartiger Tumor des Lymphsystems. Aber einer mit guten Heilungschancen, wie es hieß. „Da bist du Ende 20, stehst als Leistungssportler mitten im Leben. Du bist happy, hast dich im wahrste Sinne des Wortes ganz nach oben geboxt und endlich auch den langersehnten Vertrag mit einem deutschen Profiboxstall in der Tasche. Und plötzlich lauert der Tod an der Ecke?! Das ist unfassbar.“

Aber da war auch Erleichterung, auch wenn’s komisch klinge. „Irgendetwas stimmte ja nicht mit mir. Ich fühlte mich schlapp, war im Training schnell am Ende meiner Kräfte und pumpte wie ein Maikäfer. Ich habe viel geschlafen, brauchte ewig Zeit, um mich zu regenerieren. So schlimm und krass die Diagnose auch war: Jetzt wusste ich endlich, was los war. Und dass Krebs letztlich daran schuld war, dass ich meinen Titel verloren hatte.“

Die Warnsignale ihres von Kindesbeinen an gestählten Körpers hatte die Faustkämpferin, die in ihrer Karriere von 31 Profikämpfen 26 gewann, nicht als solche wahrgenommen. Auch dem Druck im Brustbeinbereich und dem Knötchen, das sie in der Nähe der linken Halsschlagader ertastet hatte, maß sie keine Bedeutung bei. „Schmerzen gehören zu unserem Geschäft. Es war normal, im Training an meine Grenzen zu gehen und mich auszupowern.“

Dass sie sich so schlapp und müde fühlte, schob sie auf die schlechten Blutwerte. „Ich habe zu der Zeit Eisentabletten ohne Ende geschluckt und gedacht, das wird schon wieder.“ Sie habe schlichtweg nicht auf das gehört, was ihr der Körper sagen wollte, so Schouten, „denn ich wollte nur eines: kämpfen“.

Obwohl sie nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte war, reiste sie im September 2006 nach Australien und stellte sich der Titelverteidigung gegen Sharon Anyos. Mit fatalen Folgen: Die WIBF-Weltmeisterin im Federgewicht verlor ihren WM-Gürtel nach einem Cut in der 6. Runde durch technischen K.o. Bereits in der 3. Runde war Schouten stehend angezählt worden. „Ich war körperlich am Ende, bekam keine Luft. Im Nachhinein sage ich, es war ein Fehler, ich hätte den Kampf absagen müssen. Aber es war zu spät, der Titel war weg.“

Nach der Heimreise begann die monatelange Suche nach den Ursachen. Sie endete im März 2007 bei besagter Onkologin im Krankenhaus. Zwei Tage nach der Diagnose folgte die erste Chemotherapie. Sie sei eine „pflegeleichte“ Krebspatientin gewesen, sagt Esther Schouten. Fröhlich und positiv, obwohl sie todkrank gewesen sei. Die wochenlangen Behandlungen machten ihr zu schaffen. Sie raubten ihr zwar nicht den Lebensmut und den Kampfeswillen, aber dafür die Kraft: „Körperlich ging es rasend schnell nach unten. Manchmal war mir schon ein Fünf-Minuten-Spaziergang an der frischen Luft zu viel. Das machte mich fertig. Wütend. Ich habe viel geweint.“

Vor allem aber raubte ihr der aggressive Medikamenten-Mix die Locken-Mähne. „Das war total schlimm für mich. Die blonden Locken waren ja quasi mein Markenzeichen. Nach zwei Wochen fielen die ersten Haare aus. Ich habe mich dann mit einer Freundin zusammen hingesetzt und erst Stück für Stück abgeschnitten. Irgendwann habe ich gesagt, gib mir den Rasierer: Ganz oder gar nicht! Wir haben gelacht und geweint, gelacht und wieder geweint“, erzählt die junge Frau und zupft nachdenklich an einer Strähne, die zehn Jahre später „Gott sei Dank“ wieder die ursprüngliche Länge, Farbe und Form hat. Die 1,68 Meter große Kämpferin erklärt rückblickend, sie habe den Krebs sofort akzeptiert. Aber sie habe sich auch Gedanken über den Tod gemacht. „Doch ich habe mir gesagt: Jammern hilft nicht. Und Krebs ist nicht gleich Tod. Ich tue alles, was getan werden muss, um geheilt zu werden. Ich habe fest daran geglaubt, dass alles wieder gut wird.“

Hat sie sich in dunklen Tagen, die es sicher auch gab, nie gefragt: Warum ich? „Warum nicht ich“, kontert die Boxerin. „Krebs kann jeden treffen. Niemand ist davor gefeit.“

In den vielen Stunden, in denen der ätzende Medikamenten-Cocktail durch ihre Adern floss in der Hoffnung, dass er den fünf Zentimeter großen Tumor zwischen Herz und Lunge zum Schrumpfen bringt, hatte die „Boxerin a. D.“ Zeit, sich Gedanken über ihr Leben zu machen. Ein Leben, in dem der Sport den Rhythmus bestimmte und das bis dahin viele glückliche Momente für sie bereithielt. „Ich bin zu dem Schluss gekommen: Ich hole mir das zurück, was mir der Krebs genommen hat: meine Identität. Ich werde wieder in den Ring steigen und Box-Weltmeisterin.“

Doch so groß Motivation und Wille auch waren, den Krebs über acht lange Monate hinweg mittels Chemos und Bestrahlungen zu besiegen und nach dem Ende der Therapien ein Comeback zu starten, der Weg zurück in den Ring war steinig und steil. Und er begann mit der Suche nach einem passenden Ort für den Neuanfang und einem Trainer.

Beides fand Schouten ausgerechnet in Magdeburg. Hier wurde die Boxerin, die beim ehemaligen Hamburger Team „Spotlight“ unter Vertrag stand, einem Kooperationspartner von SES-Ulf Steinforth, letztlich von dessen Chefcoach Dirk Dzemski unter die Fittiche genommen. „Ich wollte einfach nur weg und alles hinter mir lassen. Mit meinem Ziel vor Augen habe ich allen daheim den Rücken gekehrt und bin nach Magdeburg gezogen.“

Zwei Jahre war das ihre Wahlheimat. Sie habe auf dem Walloner Berg gewohnt und im Gym an der Brandenburger Straße trainiert. Behutsam und step by step wurde die Box-Lady auf ihren ersten Kampf nach dem Krebs vorbereitet: „Ich bin bei SES wunderbar aufgenommen worden, hatte viel Spaß mit den anderen Jungs. Es war wirklich eine schöne Zeit.“

Doch das, genauso wie das siegreiche Comeback, das sie im März 2008, genau ein Jahr nach der Diagnose, im großen Saal des Magdeburger Maritim-Hotels feiern durfte, und die erfolgreichen Aufbaukämpfe danach, waren nur die eine Seite der Medaille. Die andere lässt für einen kurzen Augenblick das Strahlen in ihren Augen verschwinden. Denn mit der Rückkehr nach Magdeburg anno 2017 sind auch die dunklen Momente wieder zurück: „Ich war in meiner Zeit hier auch furchtbar traurig. Der Kampf, um wieder von null auf hundert zu kommen, hat mir alles abverlangt. Ich fühlte mich sehr einsam und habe oft geweint.“ Heute würde sie sogar sagen, „ich war depressiv. Ich war in einem Tunnel. Ich war sehr egoistisch und kannte nur ein einziges Ziel“.

Das verfolgte sie konsequent weiter. Hart gegen sich selbst. Auch zwei Niederlagen gegen Federgewichts-Weltmeisterin Ina Menzer konnten die Holländerin nicht stoppen. Im März 2009 holte sich Esther Schouten im Kampf gegen Bettina Voelker letztlich „ihre“ WM-Krone im Superbantamgewicht zurück. Sie war am Ziel angekommen. Endlich und wahrhaftig. „Als ich Tage später den Gürtel im Schrank hab‘ liegen sehen, bin ich in Tränen ausgebrochen und konnte mich nicht mehr einkriegen. Ich hatte es geschafft. Ich war glücklich. Aber gleichzeitig spürte ich auch eine unendliche Leere in mir. Mir wurde klar: Es reicht. Schluss mit dem Boxen, raus aus dem Tunnel! Genieße das Leben.“

Dass sich mit ihrer Rückkehr nach Magdeburg für sie persönlich ein Kreis endgültig schließt und ein neuer mit der Rolle als Botschafterin der Krebs-Selbsthilfeorganisation öffnet, betrachtet die als Weltmeisterin abgetretene Ex-Boxerin als Fügung: „Magdeburg ist wohl mein Schicksal und bekommt durch den Kongress, der ja jedes Jahr hier stattfindet, einen festen Platz in meinem Leben. Als ich hier angekommen bin, hatte ich das wohlige Gefühl, nach Hause zu kommen.“

Genauso sei es mit den Frauen, die sie in ihrer neuen Funktion bereits kennenlernen durfte. „Es braucht keine großen Erklärungen, und es gibt keine Berührungsängste, denn uns verbindet der gleiche Schicksalsschlag: Krebs“, stellt die gelernte Fitness-Trainerin fest, die ihr Geld inzwischen als Personaltrainerin und Werbegesicht einer Zeitarbeitsfirma verdient. „Ich habe in meinem Leben als Profisportlerin immer nur genommen, jetzt sehe ich die Möglichkeit, vieles davon zurückzugeben. Wenn ich eine Inspiration für die Frauen bin, ein Ansporn, sich dem Kampf gegen den Krebs zu stellen, dann habe ich viel erreicht. Das macht mich glücklich und gibt mir ein neues Ziel.“