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Krieg Hetzjagd auf einen Pfarrer in Magdeburg

Was bewegte die Menschen in Anhalt und der preußischen Provinz Sachsen, aus denen das heutige Sachsen-Anhalt hervorging?

Von Manfred Zander 28.07.2019, 01:01

Magdeburg l Nun war tatsächlich Frieden. Doch die Glocken in den Kirchen Anhalts und der preußischen Provinz Sachsen – so ihnen denn das Einschmelzen zum Kanonenrohr oder zur Granate erspart geblieben war – hatten geschwiegen. Auch in der Magdeburger Altstadt, die wohl wie kein anderer Flecken weit und breit am dichtesten mit Kirchtürmen gesegnet war, erklang keine Glocke zur Feier des Friedens von Versailles.

Am 9. Juli hatte die Nationalversammlung in Weimar den Versailler Vertrag und die Vereinbarung zur Besetzung des Rheinlandes ratifiziert. Drei Tage später, in der folgenden Sonntagsausgabe, warnte die Volksstimme unter der Überschrift „Der Tag des Friedens“ vor überzogenen Hoffnungen: „Noch immer ist Krieg. Der Friede ist erst geschlossen, wenn außer Deutschland auch mindestens drei Ententemächte den Vertrag von Versailles ratifiziert haben. Doch dort ließ man sich Zeit. In Paris mag das auch daran gelegen haben, dass am 12. Juli in Berlin bei Zusammenstößen zwischen deutschen Zivilisten und französischen Soldaten ein französischer Sergeant erstochen worden war.

Immerhin hoben die Alliierten nach der Vetragsratifizierung in Weimar die Wirtschaftsblockade gegenüber Deutschland auf. „Die Schleichhandelspreise sind schon im Sinken und werden weiter zurückgehen“, frohlockte die Volksstimme, „manch lang entbehrter Genuß wird wieder zugänglich sein.“ Ein Bummel über den Wochenmarkt am darauffolgenden Wochenende schien dieser Zuversicht recht zu geben. Der Volksstimme-Berichterstatter fand den Markt „sehr reichlich beschickt“ und stellte eine „teilweise bedeutende Preissenkung für Gemüse und Obst“ fest. Auch das Angebot an Kirschen sei sehr stark gewesen.

Der Hinweis auf die Kirschenpreise kam nicht von ungefähr. Noch Tage zuvor hatten sie Unruhen ausgelöst. In Althaldensleben sei es zu einer Kirschenrevolte gekommen, berichtete die Volksstimme Anfang des Monats. „Etwa 40 bis 50 Mann zogen geschlossen zur Kirschen-plantage, erkundigten sich nach dem Preise, und als ihnen für das Pfund 1,50 Mark abverlangt wurde, stürmten sie einfach die Bude und ließen die Körbe mit den saftigen Früchten mitgehen.“

Ähnliches ereignete sich auch andernorts. In Magdeburg wurden die Inhaber verschiedener Lebensmittelgeschäfte von Kunden gezwungen, Kirschen für eine Mark, in anderen Fällen sogar für 89 Pfenning das Pfund abzugeben. „Bei Richard Puppe, Kronprinzenstraße 13“, schrieb die Volksstimme, „wurden 2000 Stück Apfelsinen teilweise gestohlen, teilweise mußten sie für 20 Pfennig abgegeben werden“.

Im Köthen sammelten sich am 4. Juli etwa 1000 Menschen auf dem Marktplatz und verlangten vom Magistrat der anhaltischen Stadt preiswerte Lebensmittel. Dann marschierten sie zu den Geschäften. „Der Laden von Friesleben wurde vollständig ausgeräumt“, berichtete die örtliche Presse, „bei Küster wurde der Keller erbrochen und ausgeräumt“. Schließlich habe die Polizei eingegriffen.

Klagen gab es auch auf dem Lande. „Die Felddiebstähle nehmen jetzt überhand“, berichtete die Volksstimme aus Westeregeln. Dabei werde nicht immer aus Not gestohlen. „In Säcken und großen Körben werden grüne Erbsen, die aus der Hadmersleber Flur gestohlen werden, zu Wucherpreisen nach der Stadt gebracht.“ Auch die Bewohner von Biere litten unter den sich häufenden Felddiebstählen: „Planlos werde vernichtet, was später zur Ernährung der Allgemeinheit dienen soll.“

Solche Ereignisse lockerte auch die Verbundenheit zwischen Land und Stadt - sofern es sie überhaupt gab. In Vahldorf teilte der Arbeiter- und Bauernrat Mitte des Monats mit, „daß in Zukunft an keinen städtischen Einwohner von unsern Landwirten Kartoffeln abgegeben werden dürfen“. Sie würden ausschließlich an Ämter und berechtigte Händler geliefert.

Nahrungsmittelnot machte die Menschen zunehmend missgünstig. Pastor Martin Ulbrich erlebte es am eigenen Leibe. Im Deutschen Pfarrerblatt schilderte der Vorsteher der Pfeifferschen Anstalten in Cracau seine eher kargen Lebensverhältnisse. Es sei ein seltenes Ereignis gewesen, dass ihm ein Stück Wurst zugeteilt wurde. So konnte seine Frau ihm am Sonntag ein Wurstbrot servieren. Das schenkte er aber dem zufällig anwesenden Büroboten, der das belegte Brot auf Pastors Schreibtisch mit heißhungrigen Augen betrachtet hatte. Der so Beschenkte dankte, aß das Brot und erzählte nun überall: „Unser Pastor hat‘s gut, pickfeine Wurst wie ein Handteller so groß zum Frühstück.“

Es dauerte nicht lange, und die Leute begannen „bald heimlich, bald laut: ‚Wurstfresser, Wurstfresser!‘“ hinter ihm herzurufen. Schnell wuchs sich Pastors angeblicher Wurstvorrat zu einem Schwein aus, das er schwarz geschlachtet hatte. Schließlich wurde in seinem Keller eingebrochen. Als sich nichts vom herbeifantasierten Fleischlager fand, zertrümmerten die Diebe die Fenster und die Einrichtung. „Ich faßte den Vorsatz“, schreibt der Pastor nicht sonderlich christlich, durchaus aber verständlich, „niemand mehr ein Wurstbrot anzubieten“.

Es gab Schlimmeres. Etwa die Behandlung von 35 sächsischen Mädchen, die zur Arbeit auf das Rittergut Stern bei Halberstadt verpflichtet worden waren. Ein Abgeordneter der Dresdner Volkskammer kritisierte, dass die Frauen in einer verlausten Kaserne untergebracht wurden. Als sie sich gegen „unsittliche Zumutungen“ wehrten, „wurden sie mittellos und hungrig weggeschickt“. In Halberstadt seien sie von „gutgekleideten Herren“ eingeladen worden, „sich mit ihnen zu vergnügen. Sie wollten den Mädchen 1000 Mark zahlen“. Fünf der Mädchen gingen darauf ein, kamen aber bald heulend zurück, „man hatte versucht sie in ein Bordell zu bringen.

Vor dem halleschen Schwurgericht endete am 4. Juli der Prozess gegen die Mörder des Offiziers Robert von Klüber. Der Oberleutnant war am 2. März in Halle als vermeintlicher Spion der Regierungstruppen auf offener Straße umgebracht worden. Neun Verhandlungstage hatte sich der Prozess dahingezogen. Dann wurde der Kriegsinvalide Otto Bauer zum Tode verurteilt. Neun weitere Beteiligte erhielten Strafen zwischen zwölf Jahren Zuchthaus und sechs Monaten Gefängnis. Die Angeklagten hatten jede Tatbeteiligung bestritten und die Schuld anderen angelastet. Umso mehr überraschte, was am 12. Juli die Hallische Zeitung berichtete: Sie wisse von zuverlässiger Seite, dass der zum Tode verurteilte Bauer „im Gefängnis die Tat, deren er bezichtigt ist, voll eingestanden hat.

Etwa 80 Kilometer weiter nördlich schien die Provinzhauptstadt Magdeburg allen Alltagssorgen zum Trotz längst an die Zukunft zu denken. „Der neue Oberbürgermeister, der ein Arbeiter war, zeigt auch eine harte, unermüdliche Arbeitshand in seinen Amte“, feiert die Volksstimme am 6. Juli Hermann Beims, den neuen Chef im Rathaus. Das sah die bürgerliche Presse naturgemäß anders. Es gehe alles zu schnell und es fehle an gründlicher Vorbereitung, bemängelte der Central-Anzeiger. Der neue Oberbürgermeister sei ein Autokrat, urteilte das im Faber-Verlag erscheinende Blatt.

Tatsächlich schien der Autokrat im Rathaus nichts auf die lange Bank schieben zu wollen. Auf einer Beratung zur Zukunft Magdeburgs nannte er den anwesenden Vertretern der Wirtschaft naheliegende kommunale Aufgaben: „Vorarbeiten zum Mittellandkanal, Straßen- und Bahnbauten, Brückenbauten.“

Am 23. Juli wurde ein „Wirtschaftsausschuss zur Bekämpfung der drohenden Arbeitsnot und zur Förderung heimischer Gewerbeinteressen“ gegründet. Auf seiner ersten Versammlung unterstützte der Ausschussvorsitzende und Stadtverordneten-Vorsteher Carl Miller (DDP) die Ideen des Sozialdemokraten Beims und erklärt, dass die „Entwicklung seines Hafen- und Industriegeländes“ von besonderem Wert für die Zukunft Magdeburgs sei. Die nächsten Jahrzehnte sollten zeigen, ob Magdeburgs Stadtväter richtig dachten.