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Kriegsalltag Wohnungsnot und Gemüsejammer

100 Jahre liegt der 1. Weltkrieg zurück. Zu der Zeit war Anhalt eine preußische Provinz. Doch wie sah der Alltag aus im Juni 1918.

Von Manfred Zander 10.06.2018, 01:01

Magdeburg l Wäre nicht Krieg, hätte wohl vor hundert Jahren das Wetter die Gespräche auf den Straßen oder in den Kneipen bestimmt. Seit einem Wettersturz am 24. Mai sei es immer kühler geworden, berichtete am 6. Juni die Volksstimme aus Staßfurt. „Die Witterung ... genügt auch nicht den allerbescheidensten Ansprüchen, die die Menschen in dieser Jahreszeit an sie zu stellen sich für berechtigt halten“, klagte das Blatt. In den letzten Nächten habe sich strichweise Frost gezeigt. Er schade der Vegetation, dem Obst und dem Gemüse.

In der Juni-Kälte erstarben auch die Hoffnungen der Hausfrauen auf ein verbessertes Angebot auf den Märkten. „Vom Wochenmarkt-Elend“ überschrieb die Volksstimme am 13. Juni eine Reportage vom Marcht uffm Marcht in Magdeburg. „Heute liefen die Hausfrauen wieder von Stand zu Stand und suchten Gemüse für den Mittagstisch. Gesucht wurden vornehmlich Möhren und Kohlrabi. ... Daneben wurde auch – die Hoffnung stirbt ja nie – Umschau gehalten nach Erdbeeren und Kirschen. Es waren aber weder Möhren und Kohlrabi, noch Erdbeeren und Kirschen vorhanden. Grünen Salat, Zwiebeln und Blumen gab es zu kaufen ... Am Eingang zum Alten Markt lag ein großer Berg verdorbener Spinat. Ein ältlicher Mann suchte aus diesem Berg noch zu retten, was zu retten war. Viel war es nicht.“

Zwei Tage darauf zitierte das Blatt unter dem Titel „Gemüse-Jammer“ die Zuschrift einer Leserin: „Die Hälfte des teuer bezahlten Gemüses ist Abfall“, schimpfte die Frau. „Ich kaufte zwei Bund Mohrrüben, Gewicht 1 Pfund, Preis 1,20 Mark. Wie das Kraut entfernt war, wogen die Mohrrüben noch ½ Pfund ... Dieser Tage gab es Wirsingkohl mit langen Strünken zu 50 Pfennig das Pfund. Im Frieden wurde der Strunk vor dem Verkauf entfernt, jetzt soll der verhungerte Städter auch den Strunk bezahlen.“Wer die Möglichkeit hatte, versuchte der Not ein Schnippchen zu schlagen. Meist ging das nur mit unrechtmäßigen Mitteln. Und manchmal ging es auch schief.

So wie mit einer von Pommern nach Halberstadt gelangten Kiste. Mitte Juni war die 50 Pfund schwere Kiste in der Eilgutexpedition des Bahnhofs angekommen. Laut Aufschrift enthielt sie Maschinenteile aus einer Maschinenfabrik in Pommern, bestimmt für eine bekannte Persönlichkeit der Stadt. Die Kiste hätte eiligst expediert werden können, wenn da nicht – Ordnung muss sein – der Lieferschein gefehlt hätte. Deshalb öffneten die Expeditionsmitarbeiter die Kiste und fanden statt Maschinenteilen zwei gut geräucherte Schinken.

Welche Persönlichkeit um den Genuss der saftigen Schinken gekommen war, verschwiegen die örtlichen Zeitungen allerdings. Ein öffentliches Zartgefühl, von dem sich drei Bernburger Honoratioren wenigstens eine kleine Portion gewünscht hätten. Aber ihre Bestrafung war in der alten anhaltischen Residenzstadt längst Tagesgespräch. Und wer es bis dahin noch nicht wusste, erfuhr es am 11. Juni aus den Zeitungen: „Wegen fortgesetzten Bezugs von Fleisch und Fleischwaren ohne Fleischkarten wurden durch Strafbefehl der Oberbürgermeister, Geheimer Regierungsrat und Landtagsabgeordneter Leinveber zu 1000 Mark, der Schlacht-hausdirektor Stein zu 2000 Mark, der Stadtrat Ackermann zu 600 Mark Geldstrafe verurteilt.“

Zu den alltäglichen Sorgen an der Heimatfront des bald vier Jahre andauernden Krieges hatte sich nun auch die Wohnungsnot gesellt.

Der Friedensschluss würde sie noch erhöhen, meinte der sozialdemokratische Politiker Paul Göhre am 5. Juni in einem Artikel auf der Seite 1 der Magdeburger Volksstimme. „Jede Wohnungsreserve fehlt“, bemängelte er. „Für den Augenblick des Friedensschlusses werden nach vorsichtigen Schätzungen kenntnisreicher Fachleute 700 000–800 000 Wohnungen fehlen, die für die aus dem Felde heimkehrenden Krieger nötig sind.“ Immer zahlreicher seien die Fälle geworden, in denen Kriegerfrauen mit ihren Kindern obdachlos auf der Straße liegen, während ihre Männer für den Schutz des heimatlichen Bodens ihr Leben einsetzen“.

Im Juni erinnerte der Magdeburger Magistrat daran, dass es strafbar sei, leerstehende Wohnung nicht anzumelden. In einem Beitrag vom 30. Juni forderte die Volksstimme Zwangseinquartierungen und Rationierung des Wohnraums.

Als Adressen nennt das Blatt Villen in der Zollstraße und in anderen noblen Wohnvierteln der Provinzhauptstadt. Als Beispiel wird über ein älteres, aber frisch verheiratetes Paar, erzählt, „das auf dem Breiten Wege wohnt. ... Das Ehepaar begnügt sich mit einer Wohnung von 22 Zimmern. Es könnte sich mehr ausbreiten. Die Frau hat von ihrer Witwenzeit her noch große und helle Wohnräume zur Verfügung, vorläufig nur bewohnt von kostbaren Möbeln“.

Die Kriegsjahre ließen das soziale Gefälle im Kaiserreich besonders krass hervortreten.

Vom Schwurgericht in Stendal war die Arbeiterin Hedwig Wlodarcyk aus Jübar zu zwei Jahren und einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Sie hatte ihr unehelich geborenes Kind nach der Geburt getötet – auch aus Angst, mit einem Kind keine Arbeit mehr zu finden. Die hätte sie wohl nicht haben müssen.

Am 12. Juni berichtete die Volksstimme über das Urteil, eine Seite weiter über den Aufruf der Kriegsamtsstelle in der Magdeburger Augustastraße. „Keine Arbeitskraft, die irgendwie nutzbar gemacht werden kann, darf brachliegen. Frauen aller Stände, laßt unser Heer ... nicht im Stiche! Helft ihm durch eure Arbeit den Feind besiegen!“ Am Monatsende appellierte die Leiterin der Kriegsamtsstelle, Frau Dr. Schumann-Fischer, im Alten Rathaus ausdrücklich an die „Frauen und Mädchen aus den Kreisen der Besitzenden alle Vorurteile abzulegen und ebenfalls in die Munitionsfabriken zu gehen“. Die Volksstimme kommentierte bissig: „Es hat den Anschein, als ob sie doch recht wenig Erfolg gebracht haben.“

Trotz der Juni-Kälte bevölkerten sich wieder die Sportplätze. Beim Schlagball in Fermersleben am 2. Juni unterlag in der A-Klasse der Gastgeber den Groß Otterslebern 42:97. Am 9. Juni erfolgte auf der Magdeburger Radrennbahn der Saisonstart. 6000 Zuschauer verfolgten das Dauerrennen hinter Stehermaschinen um den Großen Preis der Magdeburger Industrie. Der Tag des Rennens auf der Bahn an der Berliner Chaussee war auch einer des Trauers für Magdeburgs Sportwelt. An ihm wurde bekannt, dass am 30. Mai einer der bedeutendsten Sportler der Stadt gefallen war. Was blieb, war eine kurze Mitteilung in den Zeitungen: „An der Westfront fiel der hervorragendste kontinentale Kurzstreckenschwimmer Kurt Bretting vom Schwimmsportklub Hellas Magdeburg. Bretting besaß jahrelang die deutsche Meisterschaft im Schwimmen über kurze Strecken und vertrat zu wiederholten Malen deutsche Farben im Ausland, u. a. Olympische Spiele Stockholm.“ Im Olympiajahr 1912 hatte der Magdeburger in Brüssel über 100 m Freistil einen neuen Weltrekord aufgestellt. Nun blieb sein Startplatz bei der Hellas für immer verwaist.