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Kriminalfälle Affaire Blum in der Börde

Vor 70 Jahren wurde der Defa-Film „Affaire Blum“ uraufgeführt. Die Handlung basiert auf wahrer Begebenheit in der Börde.

Von Bernd Kaufholz 15.09.2018, 01:01

Magdeburg l 9. Juni 1925. Richard Schröder holt vom Postamt des Magdeburger Hauptbahnhofs mehrere Briefe ab – Antworten auf eine Stellenanzeige, die seine Verlobte vier Tage zuvor im „Magdeburger Generalanzeiger“ aufgegeben hat. Er fährt damit in die Wohnung seiner Schwester Elise Harbke in der Wittenberger Straße 19a. Dort sucht er in den Zuschriften nach Interessenten, die die geforderte Kaution für die angebotene Stellung als Buchhalter bei der Spar- und Darlehenskasse in Schackensleben (heute Hohe Börde) in Höhe von 500 Reichsmark sofort auf den Tisch legen können.

Denn der Mann aus Rottmersleben (damals Kreis Neuhaldensleben) hat einen teuflischen Plan: Er will sich Geld beschaffen. Wenn es sein muss, mit Gewalt. Der Schmiedelehrling ist bis über beide Ohren verschuldet. Der Reichswehrmann bekommt monatlich eine Ablöserente, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr diensttauglich ist. Doch im Dezember läuft die Pension aus. Die Fixkosten für Licht, Versicherung und Grundvermögen laufen weiter. Außerdem muss der Möchtegern-Jurastudent Gerichts- und Anwaltskosten bezahlen, weil er versehentlich seine Mutter erschossen hat und sich dafür verantworten musste. Auch die Arztrechnung für seine Braut, Hildegard Götze, die ihr Kind verloren hat, bereitet ihm finanzielle Sorgen.

Als Schröder die Zuschrift von Hermann Helling überflogen hat, nickt er und ein Grinsen überzieht sein Gesicht. Helling schreibt, dass er seit längerer Zeit mit Gelegenheitsarbeiten mehr recht als schlecht über Wasser hält. Zuletzt als Vertreter für Chemie-Artikel einer Berliner Firma. Die Kaution könne er aber bezahlen.

Am 10. Juni 1925 klingelt Schröder in der Magdeburger Hardenbergstraße 4 an der Tür im zweiten Stock. Helling ist begeistert und sich sicher, dass seine berufliche Pechsträhne nun bald vorbei sein würde. Der Kaufmann ist auch bereit, die geforderte Kaution einzustecken und sofort mit nach Schackensleben zu kommen, um dort mit dem Direktor des Geldinstituts alles Weitere zu besprechen.

Mit den Rädern fahren sie in das Bördedorf. Vor dem Gasthaus steigen sie ab. „Ich will nur schnell sehen, ob der Direktor schon da ist“, sagt Schröder. Tatsächlich sucht er seinen Cousin Otto Schulze, mit dem er gemeinsam den ahnungslosen Helling ausrauben will. Doch Schulze wird erst am Abend erwartet.

„Der Direktor ist noch nicht da“, teilt er dem Wartenden draußen mit. „Wir fahren jetzt in den Nachbarort, nach Groß Rottmersleben, wo ich wohne. Der Direktor kommt dann später nach.“

Nächster Halt ist Haus 13 e in der Dorfstraße. Die beiden Männer werden von Schröders Verlobter begrüßt. Kurz darauf sitzen sie im Wohnzimmer mit den Korbmöbeln. Hildegard Götze, die in den Plan eingeweiht ist, schließt die Läden vor den Fenstern zur Straße, dann lässt sie den Eisenriegel vom Hoftor einschnappen.

Kurz darauf fallen zwei Schüsse aus einem Trommelrevolver. Tödlich in den Hinterkopf getroffen, sackt Helling auf dem Sessel zusammen. Die Beute: 500 Reichsmark, zwei Uhren, die Schröder für 50 Mark in der Pfandleihe versetzt, und Schecks.Das Paar versucht zuerst den Leichnam zu verbrennen. Als das misslingt, verscharren sie den Körper im Keller des Hauses.

Fünf Tage nach dem Raubmord erstatten Verwandte Hellings Vermisstenanzeige bei der Polizei. Die Akte landet auf dem Tisch von Kriminalkommissar Wilhelm Tenholt. Doch sein Aufklärungseifer hält sich in Grenzen. Am 6. Juli wird der Vorgang zu den Akten gelegt.

Die Schecks, die Schröder mit falschen Namen unterschrieben hat, bringt die Polizei auf seine Spur. Allerdings lautete der Vorwurf lediglich „Scheckbetrug“. Ende März 1926 räumt der Mörder ein, einem „Adolf“ die Schecks gestohlen zu haben. Und obwohl den Ermittlern bekannt ist, dass die Schecks dem vermissten Helling gehörten, gehen sie dieser Spur nicht nach.

Aber die Verwandten Hellings lassen nicht locker. Sie vermuten, dass der ehemalige Arbeitgeber des Vermissten, Louis Haas, Maschinenhandel AG Magdeburg, hinter dem Verschwinden stecken könnte. Helling hatte eine leitende Stellung nicht bekommen und daraufhin seinen Chef Haas bezichtigt, Steuern hinterzogen zu haben.

Eine plausible Erklärung für die Ermittler. Sie schießen sich auf den jüdischen Fabrikanten, der Verbindungen in die Tschechoslowakei hat, ein. Und Untersuchungshäftling Helling, der während seiner Vernehmungen über die Ermittlungsrichtung informiert wird, baut seine Verteidigungsstrategie auf darauf.

Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Johannes Kölling, springt gern auf den Zug auf. Für den Juristen ist klar, dass nur der jüdische Betriebsdirektor in Verbindung mit dem tschechoslowakischen Konsulat eine entscheidende Aktie am Verschwinden Hellings haben kann. Die Hinweise in Richtung Schröder ignoriert der Jurist.

Kriminalbeamte, die die Spur Schröders verfolgen wollten, zieht er vom Fall ab. Er lässt Haas am 11. Juni 1926 verhaften. Der einzige Belastungszeuge ist Schröder. Der hatte phantasiert, dass er wisse, Haas und dessen Chauffeur hätten Helling in die Tschechoslowakei verschleppt.

Durch Kommissar Tenholt, Ex-Kapp-Putsch-Kämpfer gegen die Weimarer Republik, Stahlhelmanhänger und später unter den Nazis ein gefürchteter Gestapo-Mann, wird der rechtsnationale Waffennarr Schröder bestens instruiert. Da der Mörder Haas nicht kennt, zeigt ihm Tenholt den jüdischen Fabrikanten bei einer verdeckten Aktion auf dem Dach des Hauses gegenüber der Villa Haas. Wenige Tage später identifiziert Schröder den Fabrikanten bei einer Gegenüberstellung.

Landgerichtsrat Richard Hoffmann, Vorsitzender der Beschwerdekammer, lehnt die Entlassung von Haas gegen Kaution aus der U-Haft ab.

Da schreitet Otto Hörsing, SPD-Politiker und Oberpräsident der Preußischen Provinz Sachsen, ein. Er bittet um die Abordnung des bekannten und erfolgreichen Kommissars Otto Busdorf von der Landeskriminalstelle Berlin nach Magdeburg.

Der Ermittler kommt am 2. Juli 1926 in die Elbestadt. Doch Polizei und Justiz stellen sich sofort quer. Kölling verweigert ihm sogar Akteneinsicht. Trotz aller Behinderungen nimmt die exzellente Spürnase schnell Witterung auf und landet beim Betrüger Schröder. Doch der Untersuchungsrichter bleibt hart: Keine Morduntersuchung, Schröders Wahrheitsliebe sei aktenkundig. Doch der Berliner lässt sich nicht abschrecken. Er durchsucht am 15. Juni 1926 im Beisein vom Schnellkommando, von Justizbeamten und Kriminalisten das Haus in der Dorfstraße 13 e und findet im Keller Hellings verweste Leiche.

Doch wiederum grätschen Hoffmann und Tenholt dazwischen. Sie informieren Schröder und der denkt sich eine neue Variante aus. Er habe Helling am 10. Juni 1925 im Biederitzer Busch im Auftrag von Haas erschossen. Dann habe man den Toten im Auto nach Rottmersleben gebracht. Dabei habe der Chauffeur Reuter geholfen.Landgerichtsdirektor Hoffmann schäumt vor Wut und verlangt, dass der Kriminalist unverzüglich abgezogen wird. Am 17. Juni wird Busdorf nach Berlin zurückbeordert. Doch damit nicht genug, der Richter macht in der Presse Stimmung gegen den jüdischen Fabrikanten. Was besonders bei der deutsch-nationalen Presse gut ankommt.

Allerdings nutzt das letztlich weder dem Täter noch seinen „Freunden“. Denn inzwischen ermitteln zwei andere Berliner Kriminalisten. Die Verlobte des Mörders unterschreibt am 4. August auf Seite 16 des Vernehmungsprotokolls ihr Geständnis. Fünf Tage später räumt Schröder selbst die Tat ein, die er bereits am 15. Juli gestanden hat. Dieses Geständnis hatten seine Beschützer allerdings nicht zu den Akten genommen.

Am 17. September wird Schröder wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub vom Landgericht Magdeburg zum Tode verurteilt, auf Beschluss des Preußischen Staatsministeriums jedoch zu lebenslänglicher Haft begnadigt.

1929 erhält Rudolf Haas vom preußischen Justizministerium Haft-Entschädigung in Höhe von 70 000 Reichsmark. Gefordert hatte er 900 000 Mark. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 begehen er und seine Frau Selbstmord. Richard Hoffmann wird im Juli 1933 zum Präsidenten des Landgerichts I, II und III in Berlin ernannt. Gegen Landgerichtsrat Kölling wird ein Disziplinarverfahren eröffnet, das seiner Karriere jedoch nicht abträglich ist. Im Gegenteil: Er wird erst zum Landgerichtsdirektor in Magdeburg, 1937 zum Landgerichtspräsidenten in Aurich befördert. Seit 1931 ist er Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nummer 449632) - noch vor der "Machtergreifung"  und gehört somit zu den soganennten Alten Käpfern der Nazi-Partei.1939 geht er in Pension. 1953 stirbt er, ohne jemals belangt worden zu sein.

Schröder wird 1945 von den Amerikanern aus dem Zuchthaus Sonnenburg bei Küstrin an der Oder entlassen. Er empfängt die Nichtsahnenden mit offenen Armen als seine „Befreier“. Er stiehlt auf dem Weg in die Börde einem Marineoffizier die Papiere und nimmt dessen Identität an. Er lebt in Bahrendorf, wo er Mitglied der KPD wird. Gleichzeitig ist er aber der Kopf einer Räuberbande, die Vieh verschiebt.

Durch einen Zufall identifiziert ihn Bernhard Lück, der Bürgermeister des Bördedorfes, nachdem er im Krankenhaus das Buch des Gerichtsreporters Paul Schlesinger, „Richter und Gerichtete“, über den Magdeburger Justizskandal gelesen hat.

Schröder wird vehaftet und im Februar 1947 vom Schöffengericht Wanzleben unter anderem wegen Urkundenfälschung und Nötigung zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Zugleich muss er weiter seine Mordstrafe absitzen.

Er soll später im Zuchthaus Brandenburg an Tuberkulose gestorben sein.

Kommissar Tenholt, der sich 1926 ebenfalls bei einem Disziplinarverfahren verantworten muss, bleibt bis 1927 bei der Magdeburger Kripo.

1933 setzt ihn Göhring als Gestapochef in Recklinghausen ein. 1945 wird er zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, aber 1955 begnadigt.