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KriminalitätDie 90er waren „besonders wild“

Das Landeskriminalamt wird 30. Seither wurde allein in Hunderten Mordfällen ermittelt. Polizisten und Staatsanwälte blicken zurück.

Von Matthias Fricke 28.01.2021, 00:01

Magdeburg l Es ist Anfang 1991, als sich der damalige Generalstaatsanwalt Jürgen Hoßfeld gerade auf dem Weg zu seiner provisorischen Wohnung auf dem Gelände der damaligen Justizvollzugsanstalt in Magdeburg befindet. Der 46-Jährige sieht, wie drei offensichtlich betrunkene junge Leute einen alten Mann niederstoßen. Sie treten brutal zu und verletzen ihn. Offensichtlich erfolgt der Angriff ohne jeden Anlass, völlig grundlos. Hoßfeld klopft heftig an die Scheibe der Polizeibehörde in der Hallischen Straße und ruft um Hilfe. Erst dann verschwinden die Täter. Dieses persönliche Erlebnis ist bei ihm hängen geblieben. Auch nach 30 Jahren erinnert er sich noch gut daran. Es steht für ihn für die Zeit kurz nach der Wende.

Heute, 30 Jahre später, sitzt der 75-Jährige zu Hause in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein und genießt seinen Ruhestand. Zur gerade in den Anfangsjahren oft entfesselten Gewalt im Land sagt er: „Viele haben damals gedacht, sie könnten machen, was sie wollen. Der Staat hatte nach der Wende jede Autorität verloren.“

Sowohl die Polizei als auch die Justiz befanden sich zudem in einem erbärmlichen Zustand. „Der sogenannte Justizpalast, in dem ich mein Büro hatte, war eine Ruine. Die Bodenfliesen in der Toilette klapperten. Der Taubendreck vor den Fenstern war mehrere Zentimeter dick und die Räume hatten seit Jahrzehnten keinen Maler mehr gesehen. Telefonieren war ein wirkliches Problem. Das passte alles zur gesamten Situation. Aber ich muss trotzdem sagen, es war beruflich die schönste Zeit meines Lebens“, erinnert sich der Generalstaatsanwalt a. D.

In dieser Zeit herrschen bei der Strafverfolgung chaotische Zustände. Es sind kaum noch Staatsanwälte vorhanden. Zur Wende 1989 gab es im Bereich des heutigen Sachsen-Anhalts noch 200 Staatsanwälte. Im Oktober 1990 waren es nur noch 170 und Ende 1991 gerade mal 59. Viele, vor allem aus den politischen Abteilungen, scheiden früh aus eigenem Entschluss aus. Die meisten unterziehen sich aber einer Überprüfung. In dieser Zeit leisten 25 Staatsanwälte und elf Amtsanwälte aus Niedersachsen Unterstützung. Hoßfelds Hauptaufgabe: Die Gründung der heutigen Staatsanwaltschaften in den vier Landgerichtsbezirken, mit Zweigstellen in Halberstadt und Naumburg. Erst in den Folgejahren verbessert sich die personelle Situation durch Neuzugänge. Dafür wächst aber die Kriminalität in Sachsen-Anhalt schneller, als die Fälle verfolgt werden können. Diebstahls­anzeigen werden „zur Zentnerware“, wie Mitte der 90er Jahre ein Revierleiter in Magdeburg die Situation auch öffentlich in der Volksstimme beschreibt.

Schlimmer noch ist der ungebremste Anstieg schwerer Gewalt. Die Tötungsdelikte insgesamt nehmen zu. Sie erreichen 1993 und 1995 mit jeweils 280 Fällen nach einer statistischen Auswertung des Landeskriminalamtes den Höchststand. Jetzt ist es gerade einmal ein Drittel davon. Im Jahr 1994 gab es den Höchststand an Mordfällen (66). 1997 lag die Zahl bei 57. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 sind es sieben.

„Damals gab es viele furchtbare Morde“, so Hoßfeld. Auch viel politisch motivierte Gewalt: Neonazis greifen reihenweise linke Jugendtreffs mit Baseballschlägern an, im Fall des 23-jährigen Torsten Lamprecht endet dies am 11. Mai 1992 im Magdeburger Stadtteil Cracau tödlich. 60 Neonazis hatten damals eine Geburtstagsparty von Punks gestürmt. Ein Jahr später wird der 23-jährige Matthias Lüders aus Obhausen (Saalekreis) mit einem Baseballschläger totgeprügelt. Auch hier hatten 40 bis 50 Neonazis eine als „linken Treff“ bekannte Disco gestürmt. Es gibt viele solcher Angriffe im gesamten Osten, weshalb die 90er Jahre inzwischen auch „Baseballschläger-Jahre“ genannt werden.

Ein Ermittler, der viele der Tatorte herausragender Verbrechen in Sachsen-Anhalt gesehen hat, ist der Leiter der Tatortgruppe des Landeskriminalamtes (LKA) Michael Ulrich. Der heute 57 Jahre alte Kriminalrat ist von Beginn an dabei und seit 23 Jahren Chef der Spurenermittler. Nach einem mehrwöchigen Praktikum beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden, als erster „Ossi“ in der Spuren­sicherungsausbildung, beginnt er im Februar 1992 die ersten Tatorte in Sachsen-Anhalt zu untersuchen.

Zum Einsatz fährt er anfangs mit dem früheren Dienstwagen von Generalmajor Albin Schneider, bis zur Wende war dieser Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Magdeburg. Der Peugeot ist als damaliger West-Import für die Polizisten zu diesem Zeitpunkt etwas Besonderes. Erst nach und nach werden die alten DDR-Ladas durch gebrauchte Dienstfahrzeuge aus dem Westen ersetzt. Er erinnert sich: „Zum Anfang ging das alte DDR-Funkgerät ab und zu von ganz allein an. Da wurde uns irgendwie anders.“ Seine ersten Einsätze führen ihn für Foto-Dokumentationen in den ehemaligen Stasi-Knast Roter Ochse in Halle und zum Moritzplatz in Magdeburg. Zum ersten Tötungsdelikt rückt er Anfang 1992 nach Seehausen in der Altmark aus. „Schon die Strecke von Magdeburg dorthin entsprach einem Tagesausflug.“

Die Zahl der Tatorte steigt rasant. Die örtlichen Polizeibehörden rufen die Spezialisten immer häufiger zur Unterstützung. Der Druck auf die Ermittler wächst. Ende 1991 stehen erst fünf bis sechs Beamte zur Verfügung. Sie werden von einer erfahrenen BKA-Ermittlerin geführt.

Mitte der 90er Jahre geht es im Land zur Sache. „Zu diesem Zeitpunkt sind wir als Tatortgruppe des LKA allein zu 30 Tötungsdelikten im Jahr ausgerückt“, sagt Ulrich. Immerhin gehören je nach Umfang des Tatortes auch 30 bis 40 Seiten Beschreibung, Skizzen und Fotodokumentationen dazu. Ein Einsatz könne mehrere Tage bis zu einer Woche dauern.

Deshalb wächst die Tatort-Gruppe. Acht bis zehn Mitarbeiter gehören ihr später an. Aktuell sind es neun, plus Chef. Die technische Entwicklung verläuft im neuen Jahrtausend rasant. Verbesserte Digitaltechnik hält Einzug und im Jahr 2006 erhält das LKA als erste Länder-Dienststelle Deutschlands auch eine „Sphärische Kamera“. Damit ist eine Darstellung des Tatortes mit einer 360-Grad-Rundumsicht und 180 Grad von der Decke bis zum Boden möglich. Dank verbesserter Möglichkeiten gelingt es im Jahr 2005, aus einem am Tatort gefundenen Haar nach dem Mord an der siebenjährigen Maria Juhl eine DNA-Spur mit der nötigen Beweiskraft zu extrahieren. Der Täter kann so zehn Jahre nach dem Verbrechen überführt und verurteilt werden.

Auch Kriminalrat a. D. Detlef Golz (63) ist seit 1991 im Kampf gegen das Verbrechen an vorderster Front dabei. Er baut das erste Mobile Einsatzkommando für Observationen und Festnahmen auf, später kommen zwei weitere dazu. Seine Mitarbeiter arbeiten oft mit Legenden und in Zivil. Der heutige Ruheständler erinnert sich: „Wir hatten das Problem, dass die Kriminalität aus dem Boden schoss und gleichzeitig sich alle die neuen Dienstvorschriften aneignen mussten.“

In jener Zeit gab es bundesweit Geiselnahmen und Erpressungen, auch von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. „Zum Glück hatten wir bei uns nur wenig lohnenswerte Opfer, so dass der Kelch an uns weitgehend vorübergegangen ist.“

Schwerverbrecher gibt es dennoch reichlich. So jagen die LKA-Zielfahnder, die auch zum Bereich von Golz gehören, den „Doppelmörder von Sennewitz“ quer durch die Republik. Bernd Büch zählt zu den gefährlichsten Straftätern Deutschlands. Ihm gelang mehrmals die Flucht aus Haftanstalten und er vergewaltigte immer wieder Frauen. 1998 gelingt es ihm erneut, aus dem Maßregelvollzug in Düren (Nordrhein-Westfalen) zu fliehen. Er tötet in Sachsen-Anhalt, in Sennewitz (Saalekreis), einen 46-jährigen Familienvater mit zwei Kopfschüssen und erdrosselt dessen 71-jährige Mutter. Die 16-jährige Tochter und deren 42-jährige Mutter hält er 17 Stunden gefangen, missbraucht und vergewaltigt sie mehrmals. Die Zielfahnder um Golz sind ihm auf der Spur, graben sich sogar in einem Wald bei Wunsiedel ein, weil sie den Gesuchten dort erwarten. Sie hören auch mehr als ein Dutzend Telefone ab. Doch am Ende wird der Täter erst zwei Monate später in Hessen gefasst. Golz: „Bei dem Fall habe ich wirklich graue Haare bekommen.“

Mit dem Anschlag 2001 auf das World Trade Center in New York verändert sich die Sicherheitsstruktur. „Auch bei uns“, sagt Generalstaatsanwalt a. D. Jürgen Konrad (2001 bis 2020 aktiv). „Plötzlich spielten Begriffe wie Schläfer einer Rolle“, erinnert er sich.

Gesetzesänderungen gab es aber nicht nur im Kampf gegen den Terror. Konrad: „In den letzten Jahren hat sich auch in der Rechtsprechung enorm viel getan. Die verbesserte Vermögensabschöpfung hat uns zum Beispiel bei der Verfolgung der organisierten Kriminalität vorangebracht.“ Der verbesserte Schutz von Opfern im Sexualstrafrecht sei zudem ein Meilenstein. Die Rechtshilfe auf EU-Ebene habe sich ebenfalls in den vergangenen 20 Jahren erheblich verbessert. Gerade im Kampf gegen die internationale Kriminalität sei dies Grundvoraussetzung.

Der Landeschef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Peter Meißner, sagt zur heutigen Situation: „Die Tatorte haben sich in den vergangenen zehn Jahren stark in das Internet verlagert. Auch nimmt zum Beispiel Drogenkriminalität eine immer stärkere Rolle ein. Ich rechne aber zudem in anderen Deliktbereichen in diesem Jahrzehnt noch mit weiteren Veränderungen.“ Interessant sei für ihn auch der Umstand, dass die schweren Verbrechen zwar zurückgegangen sind, die jährlich zunehmenden Fälle von Körperverletzungen aber immer noch für ein sehr hohes Gewaltpotenzial sprechen.