1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Schöne bunte Plastikwelt

Kunststoffindustrie Schöne bunte Plastikwelt

In Sachsen-Anhalt arbeiten fast 10 000 Menschen in einer Branche, die unser Leben mitbestimmt.

08.07.2016, 23:01

Magdeburg l Fast 10.000 Menschen arbeiten für die Unternehmen der Kunststoffindustrie in Sachsen-Anhalt. 144 Betriebe erwirtschafteten im Jahr 2014 einen Umsatz von rund 3,3 Milliarden Euro. Die Kunststoffindustrie im Bundesland ist für etwa ein Drittel des Branchenumsatzes in Ostdeutschland verantwortlich. Die Kunststoffproduktion hat eine lange Tradition in Sachsen-Anhalt.

Die Begriffe „Plaste“ und „Elaste“ sind untrennbar mit dem Industriestandort Schkopau verbunden. Dort wurden unter anderem Kunststoffe für den Trabant produziert. Heute prägen international tätige Unternehmen wie Dow, Trinseo oder Byk die Branche. Die Exportquote beträgt rund 40 Prozent. 22 Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Sachsen-Anhalt arbeiten mit der Branche zusammen. Viele Firmen betreiben zudem eigene Forschungszentren.

Herbert Snell ist der Herr des Mülls. Der 54-Jährige ist Geschäftsführer der Unternehmen Multipet und Multiport in Bernburg. Die Firmengruppe zählt zu den größten Kunststoff-Recyclern in Deutschland. Rund 70.000 Tonnen Plastikmüll werden jedes Jahr im Salzlandkreis aufbereitet. „Wir verstehen uns als Rohstofflieferant für die Kunststoffindustrie“, sagt Snell.

Zwei Arten von Plastikmüll werden in Bernburg verarbeitet. Kunststoffverpackungen wie Spül- oder Waschmittel kauft die Firma Multiport in ganz Europa ein. „Nur mit deutschem Material könnten wir uns nicht versorgen“, sagt Snell. Dafür sei die Recycling-Quote für Kunststoffabfälle in Deutschland zu gering.
Nur die Firma Multipet, die PET-Flaschen recycelt, bezieht den Müll vollständig aus der Bundesrepublik. Mehrwegflaschen werden hierzulande bis zu zwölfmal neu befüllt, landen erst dann im Abfall. Für eine Tonne alter PET-Flaschen muss Herbert Snell derzeit rund 300 Euro auf den Tisch legen. In den riesigen Maschinen von Multipet werden die Behälter sortiert, gewaschen, geschreddert und nach Farben sortiert.

Der Großteil wird zu Fasern verarbeitet und wandert in Kleidung und technische Textilien. Die alten Flaschen enden aber auch in Autos, auf Flachdächern, in etlichen Vliesstoffen und in Pharma- und Lebensmittelverpackungen. 1991 wurde Multiport in Bernburg gegründet. Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten sahen die Chance, mit der Aufbereitung von Kunststoffmüll Geld zu verdienen. Kurz zuvor war die deutsche Verpackungsverordnung in Kraft getreten. Herbert Snell ist seit 2001 Geschäftsführer. Unter seiner Ägide sind die Unternehmen gewachsen, Geschäftsfelder wurden erweitert. Mit vier Spritzgussmaschinen stellt Multiport aus den Verpackungsabfällen auch eigene Produkte her. Rund 100.000 Meter Wasserrinnen verlassen pro Jahr das Werk. Zudem produzieren die Bernburger 50 000 Meter Kabelkanäle, die zum Beispiel an Bahnstrecken empfindliche Stromleitungen vor Umwelteinflüssen schützen. 160 Mitarbeiter erwirtschaften heute einen Jahresumsatz von 42 Millionen Euro.

Im Lager von Multipet warten Millionen kleiner PET-Splitter verpackt in ein Tonnen schwere Säcke auf die Auslieferung. „Wir garantieren weniger als fünf Gramm Metall in diesem Sack“, sagt Herbert Snell. Mit diesem Versprechen wirbt er um neue Kunden. Offenbar mit Erfolg: Auf dem Gelände laufen Bauarbeiten. Eine neue Schredder- und Waschlinie soll in der kommenden Woche das Recycling aufnehmen.

Der Joghurt-Becher ist weich. Die Plastik-Bauteile in einem Kühlschrank müssen bei kalten Temperaturen ihre Festigkeit bewahren. Entscheidend für die Eigenschaften von Kunststoff ist feines, weißes Pulver oder Granulat, sogenanntes Polymer. Erdöl oder Ethanol sind die Ausgangsstoffe des Produkts, das als Grundbestandteil der Kunststoffindustrie gilt. Firmen wie Byk aus Schkopau verfeinern und modifizieren die Polymer-Granulate. Die Firmengruppe verdient vor allem mit Zusatzstoffen, die in Lacke gemischt werden, ihr Geld.

„Die Additive machen in der Regel nur etwa ein Prozent des Lacks aus, beeinflussen die Eigenschaften des Produktes aber massiv. Die Zusatzstoffe sind sozusagen das Salz in der Suppe“, erklärt Frederik Piester, Leiter für angewandte Entwicklung Kunststoff bei Byk. In gigantischen Extrudern werden die Polymer-Granulate mit den Additiven gemischt. „Wir füllen oben feines Pulver hinein, das kommt unter wieder heraus, ist aber völlig verändert“, sagt Piester. 2001 wurde der Standort in Schkopau gegründet. 40 Mitarbeiter arbeiten an der Produktion der Zusatzstoffe. Weltweit sind bei Byk rund 2000 Mitarbeiter beschäftigt.

Die Forscher im Fraunhofer Pilotanlagenzentrum (PAZ) in Schkopau sind auf der Suche nach dem Plastik der Zukunft. In riesigen Reaktoren werden sogenannte Polymere erforscht. Diese Molekülketten sind der Ausgangspunkt für viele Kunststoffe. „Unser Ziel ist es, mit einer neuen Anordnung der Elemente in den Polymerketten leistungsfähigere Kunststoffe zu entwickeln oder neue Anwendungsmöglichkeiten zu eröffnen“, erklärt Forscher Michael Bartke, der das Institut leitet.

Seit 2005 ist das PAZ die Ideenschmiede, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, aber auch für die Automobilindustrie. Die neuen Materialien werden von den Wissenschaftlern nicht nur im Labor erforscht, sondern in der industriellen Produktion erprobt. „Wir finden so heraus, welche Stoffe sich für eine kommerzielle Nutzung eignen“, sagt Ivonne Jahn, stellvertretende Leiterin der Polymerverarbeitung. Die Forscherin arbeitet an Polymer-Verbindungen aus Kunststoffen und Glasfasern. Maschinen pressen daraus Rahmenteile für Autos. Die Branche sucht nach kreativen Lösungen. Elektromobilität ist die Zukunft. Doch dafür müssen die Fahrzeuge Gewicht verlieren. Erkenntnisse aus Sachsen-Anhalt könnten dabei helfen.

Das Wissen von Ralf Irmert ist begehrt. Der Ingenieur ist Geschäftsführer des Kautschuk-Herstellers Trinseo in Schkopau (Saalekreis). Der Kunststoff ist elementarer Bestandteil der Autoreifen großer Hersteller wie Bridge­stone und Goodyear. „Kautschuk beeinflusst den Rollwiderstand und den Kraftstoffverbrauch“, erklärt Irmert. Einen weltweiten Marktanteil von 10 Prozent haben die Sachsen-Anhalter. In Schkopau wurde in den Buna-Werken erstmals 1937 Kautschuk industriell produziert. Heute verlassen jährlich mehr als 300.000 Tonnen Kautschuk das Werk. Von 500 Mitarbeitern sind 30 in der Forschung tätig. Irmert: „Wir leisten uns eine Pilotanlage, um im globalen Wettbewerb schneller am Markt zu sein.“

Vermutlich halten täglich Millionen Menschen in Deutschland Folien aus dem südlichen Sachsen-Anhalt in ihren Händen: Mitarbeiter von Porsche bekleben mit weißen Schutzfolien vom Band gelaufene Sportwagen, Lufthansa schützt fliegende Ladung mit reißfesten Folien von Polifilm, auch gemahlener Kaffee oder Zahnpasta wird durch Kunststoff-Folien von Polifilm vor Verunreinigungen von außen bewahrt. Die Produkte der Firma sind gewissermaßen Hüter des guten Geschmacks.

In Weißandt-Gölzau produziert das Unternehmen rund 300 000 Tonnen Folien im Jahr. Hier im Landkreis Anhalt-Bitterfeld steht der größte Standort des familiengeführten Mittelständlers aus Nordrhein-Westfalen. Bastian Runkel ist der Geschäftsführer. 1991 kaufte sein Vater den Standort von der Treuhand. Mittlerweile arbeiten 800 Mitarbeiter in der Folien-Produktion. Rund zwei Drittel des 500-Millionen-Euro-Jahresumsatzes erwirtschaftet das Unternehmen in Sachsen-Anhalt, am größten Standort der Firmengruppe.

In der hauseigenen Forschungsabteilung arbeiten 45 Mitarbeiter an der Entwicklung von Folien der nächsten Generation. In Labor und Technikum sind in den vergangenen zwei Jahren mehr als eine Million Euro investiert worden. „Forschung und Entwicklung ist die Grundlage für innovative Produkte“, sagt Bastian Runkel. Mehr als 60 Entwicklungsprojekte laufen derzeit. Das Ziel ist, mit weniger Materialeinsatz reißfestere Folien herzustellen.

Jörg Schlichting ist ein Schnellboot und seine Konkurrenten sind die großen Tanker. Der 53-Jährige verwendet dieses Gleichnis gerne, um zu erklären, dass sein Unternehmen in der Sicherheitsschuh-Branche nur ein ganz kleiner Player ist. „Wir stellen jedes Jahr 48.000 Paar her, unsere Konkurrenten machen 1,5 Millionen Paar Schuhe“, erklärt Schlichting. Seit 2005 führt er die Schuhfabrik EWS in Eisleben (Landkreis Mansfeld-Südharz) durch den umkämpften Markt. Damals kaufte Schlichting das insolvente Unternehmen. „Wir haben seitdem nicht einen Monat in den Sand gesetzt“, sagt er. Heute stellen 26 Mitarbeiter die Schuhe aus Sachsen-Anhalt her.

Schlichting hat ein gutes Gespür, wenn es um die Bedürfnisse seiner Kunden geht. Man könnte behaupten, er weiß, was Frauen wollen. Der pinke Feuerwehrschuh „Pink Fire“ ist seit der Markteinführung im Mai ein Verkaufsschlager. Besonderer Blickfang: die pinke Sohle aus Kautschuk. „Ohne Kunststoff würde es unsere Schuhe nicht geben“, sagt Schlichting. Ein Zulieferer aus Wuppertal stellt die Sohlen her.