1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Wo Brücken entstehen

Leser helfen Wo Brücken entstehen

„Brücken bauen“ - Dieses Motto eint die sechs Projekte, die im Rahmen der Spendenaktion „Leser helfen“ unterstützt werden sollen.

Von Janette Beck 16.11.2019, 00:01

Lüttgenziatz l Niklas (10) und Philipp (11), beide seit längerem Bewohner des Kinder- und Jugendhauses in Lüttgenziatz (Jerichower Land), gehen auf die große, mit einem Holzzaun umrahmte Koppel zu. Hier sind die Freunde oft zu finden. Es ist ihr Lieblingsort – in guten wie in schlechten Zeiten. Hier suchen und finden sie Zuflucht. Hier fühlen sie sich willkommen, geborgen und geliebt. Warum, macht die Szene, die sich dem Beobachter bietet, deutlich: Die Jungs – eben noch im ersten Interview ihres Lebens schüchtern, unsicher und „ganz schön aufgeregt“ – gehen festen Schrittes auf die Pferde zu. Ohne Angst. Ganz selbstbewusst. Die Brücke, die sie in den wöchentlichen Therapiestunden, beim „Gruppendienst“ alle drei Wochen und den unzähligen Besuchen in ihrer Freizeit zu den Tieren aufgebaut haben, gibt ihnen Sicherheit.
Die Jungs wissen genau, was sie zu tun und zu lassen haben. Um die gewünschte Aufmerksamkeit der Pferde zu bekommen, schnalzen sie mit der Zunge. Das Geräusch kennen die zwei Tinker „Trucee“ (9) und „Jonny“ (30) sowie Shetlandpony „Achat“ (30), offensichtlich ganz genau. Die schwarz-weiß gescheckte Stute hebt sofort den Kopf, spitzt die Ohren, stellt sie zwischen ihrer langen, schwarzen Mähne neugierig nach vorne. „Hey ,Trucee‘, komm mal her, komm ...“, ruft Philipp.
„Ach, da seid ihr ja endlich“, scheint die Antwort zu sein, während das mittelgroße Pferd – eine Mischung aus Pony, Warmblutpferd und Kaltblutpferd – in Richtung Zaun trabt. Es wirkt fast so, als habe „Trucee“ schon auf die Jungs gewartet. Wohl wissend, was jetzt in Aussicht steht: Streicheleinheiten für die Seele. Auf beiden Seiten. „,Trucee‘ mag es, wenn sie gebürstet wird. Dann steht sie ganz still. Das ist wie eine Massage für den Rücken“, erklärt Niklas. „Nur am Kopf anfassen, das hat sie nicht so gerne“, erläutert er und schmiegt sich an den Hals des 9 Jahre alten Pferdes.
Die Tinker-Stute ist die „Gutmütigkeit“ auf vier Beinen. Sie kam bereits als Fohlen zur Einrichtung des Albert-Schweitzer-Familienwerkes und wurde hier durch speziell geschulte Therapeutinnen zum Therapiepferd ausgebildet. In all den Jahren hat „Trucee“ wertvolle Dienste als Freund und Seelentröster geleistet. Momentan werden in dem 1922 erbauten ehemaligen Gutshaus, das bereits zu DDR-Zeiten ein Kinderheim war, 27 Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 16 Jahren in drei Wohngruppen betreut, therapiert und intern beschult. Viele kommen aus schwierigen Elternhäusern, haben Probleme mit der Schule oder verweigern diese gar vollkommen.
Der Start in der neuen dörflichen Umgebung – weit weg vom Zuhause, auf einem großzügigen Areal von gut 75 000 Quadratmetern mitten im Wald – ist nicht einfach. Auch wenn das 40-köpfige Team um Leiterin Kerstin Gläser alles daran setzt, ein liebevolles Zuhause auf Zeit zu bieten. Auch Niklas hatte Eingewöhnungsprobleme. Er war schnell bockig, fand alles „blöd“ – vor allem Schule. Um dem Spannungsfeld zu entfliehen, ging er raus. Doch wohin mit der Wut und dem Frust? Seine Tierliebe führte ihn zu den Pferden. Besonders „Trucee“ schien sofort einen Draht zu ihm zu haben. Ihr konnte er alles erzählen. Warum es manchmal in ihm kocht. Dass er Angst hat, etwas verkehrt zu machen. In ihrer Nähe kam und kommt er „runter“, wie er sagt: „Ich habe das Gefühl, dass sie mich versteht und tröstet. Ich denke, sie weiß genau, wie es mir geht.“
Wie für Niklas ist auch für Philipp die Liebe zu den Pferden, zum Reiten und Voltigieren zum emotionalen „Türöffner“ geworden. Durch die Therapie hat er viel gelernt. Auch über sich selbst. „Ich merke, dass ich nicht mehr so aggressiv bin und gleich weglaufe, wenn es Probleme gibt.“ Er spürt Verantwortung, fühlt sich gebraucht. Er weiß inzwischen, was die Pferde an Pflege, Hege und Futter brauchen. Wie man sie longiert oder die Hufe säubert. Und es tröstet ihn, zu wissen, dass auch „Trucee“ mal schlechte Laune hat und stur ist. Er findet es „total schön“, dass die Stute dann seine Nähe sucht und ihn mit der samtweichen Pferdeschnauze anstupst. „Dann braucht sie einfach ihre Ruhe. Ich streichle sie viel und rede mit ihr“, gibt der kleine „Pferdeflüsterer“ seine persönliche Strategie preis.
Was die Kinder im Umgang mit den drei Pferden fühlen und erleben, lässt sich auch wissenschaftlich erklären, so Kerstin Gläser. Die besondere Verbindung, die viele ihrer Schützlinge mit der Zeit zu den Pferden aufgebaut haben, beruht auf Spiegelneuronen, erläutert die Psychologin: „Diese speziellen Nervenzellen im Gehirn versetzen uns in die Lage, Empfindungen und Emotionen wahrzunehmen, zu spiegeln und so Empathie zu entwickeln.“ Bei Pferden sind diese „Antennen“ besonders fein ausgeprägt. Damit können sie bildlich gesprochen hinter die Mauern schauen. Und die sind bei den Kindern und Jugendlichen in Lüttgenziatz zu Beginn der Therapie hoch, weiß Kerstin Gläser: „Viele, die über die Jugendämter zu uns kommen, haben eine lange Vor- und Leidensgeschichte. Auf ihre Bedürfnisse wurde nur wenig Rücksicht genommen, ihr Vertrauen in Menschen ist tief erschüttert.“
Gläser, die das Kinder- und Jugendhaus bereits seit 2009 leitet, schwört auf den Einsatz von Therapiepferden nicht nur, weil sie die Fähigkeit haben, seelische und körperliche Dysbalancen wahrzunehmen und auszugleichen. „Pferde sind vom Wesen her auch grundsätzlich frei von Werten und Vorurteilen. Dadurch fühlen sich die Kinder verstanden, angenommen und respektiert, bekommen Halt und Sicherheit.“ So finden sie unbewusst zu ihren Emotionen und Verlangen nach Liebe, Zuwendung und Zugehörigkeit zurück. Kurzum, sie zeigen Empathie.
So wie Niklas und Philipp. Sie machen sich nämlich Sorgen um „Trucee“. Deren betagte Pferdefreundin „Heidi“ musste voriges Jahr eingeschläfert werden. Auch „Achat“ und „Jonny“ sind uralt, geben die Jungs zu bedenken. „Wenn sie auch noch sterben, ist Trucee‘ allein.“. Zudem strengen die Therapiestunden auch die Stute an. Vor allem das Reiten: „Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu viel für sie wird.“ Ein neues Therapiepferd wäre die beste Lösung. Für alle.
Mehr zur Aktion "Leser helfen" gibt es in einem Dossier.