Diakonissen Mit Gottvertrauen gegen die Krise
Die Schar der Schwestern im Mutterhaus Elbingerode schrumpft dramatisch.
Die fromme Gemeinschaft weiß, dass sie sich neu erfinden muss.
Elbingerode l Wie funktioniert das nur? Wie bekommt man ein weißes Stück Stoff so gefaltet, dass es eine steife und stabile Kopfbedeckung bildet? Ein zartes Geschöpf ist diese Haube und sitzt doch wie festbetoniert, auch nach einer Oberharzer Windböe. Verbirgt sich ein Drahtgestell darunter? "Nein", sagt Schwester Kerstin und lächelt. "Der Stoff wird natürlich gestärkt", verrät Schwester Janina. "Manche helfen mit Büroklammern nach", weiß Schwester Sonja. Darf man zusehen, wie eine Schwesternhaube gefaltet wird? "Nein, das geht leider nicht", sagen alle drei fröhlich. Selbst der Direktor des Diakonissen-Mutterhauses von Elbingerode ist ahnungslos. "Das bleibt wohl ein Geheimnis", vermutet Pastor Reinhard Holmer.
180 Diakonissen leben oberhalb des Harzstädtchens Elbingerode, für jede beginnt der Tag mit dem Falten der Haube. Hinzu kommt die Tracht, ein schlichtes dunkles Kleid mit Schürze und weißem Kragen. Ein Erscheinungsbild, das schwer nach 19. Jahrhundert aussieht und auch aus dieser Zeit stammt. Doch wer möchte diese Kleidung heute noch tragen?
85 Jahre alt ist Schwester Sonja, damit gehört sie im Kreise ihrer Mitschwestern zu den mittleren Jahrgängen. Aus ihren blauen Augen strahlt die verschmitzte Fröhlichkeit einer Frau, die mit sich und der Welt im reinen ist. Dabei hat sie Schweres erlebt: 1945 wird in Chemnitz ihre Schule weggebombt, das Abitur fällt aus. Die Familie rettet sich ins Erzgebirge, die junge Frau muss beim Bauern anpacken: aus der Schulbank in den Schweinestall. Schlimmer ist die Sinnkrise. "Wir sind alle braun aufgewachsen, mein Herz war leer. Der Nationalsozialismus hatte uns alles genommen." Als ein reisender Schweizer Pfarrer im Dorf Halt macht, um für Jesus zu werben, fühlt sie sich vom Chorgesang angezogen - und lässt sich bekehren. Nach einer Ausbildung zur kirchlichen Heimleiterin tritt sie der Elbingeröder Schwesternschaft bei. "Ich habe gespürt: Das ist mein Platz, hier gehöre ich hin."
Der Satz ist allerdings eher geistlich zu verstehen - 1960 verlässt Schwester Sonja den Harz und geht als Missionsschwester nach Taiwan. Auf der Insel leitet sie ein Heim für behinderte Mädchen, erst 1994 kommt sie zurück. "Wir können also gern auch Chinesisch reden", sagt sie fröhlich und wechselt die Sprache. Ihre Schwesterntracht, die heute selbst in Deutschland fremd und aus der Zeit gefallen wirkt, hat ihr in Asien hohen Respekt eingetragen: Üblich war die Verbeugung, mit der auch buddhistische Mönche geehrt werden. Zivile Kleidung hat sich Schwester Sonja erst vor ein paar Jahren wieder gekauft - für den Strandkorb an der Nordsee.
Seit fast 100 Jahren gehören die weißen Hauben zu Elbingerode, Nachwuchs kam in allen Zeiten. Jetzt nicht mehr. Zehn Jahre lang hat sich keine junge Frau mehr dafür entschieden, ehelos, mit wenig Besitz und gehorsam Gott zu dienen. Jahr für Jahr schrumpft die Schwesternschaft. Lebten 1996 noch 350 Diakonissen im Mutterhaus, sind es jetzt 180 - ein Rückgang fast um die Hälfte. Doch seit vier Wochen gibt es eine Neue in den Reihen: Janina Meier, eine 29-Jährige aus Bad Harzburg. Sie trägt ein silbernes Kreuz um den Hals, jedoch noch zivile Kleidung. Ein Jahr wird sie auf Probe unter den Schwestern leben.
Bereits ihre Ausbildung zur Altenpflegerin in Bad Harzburg hatte sie in einem Diakonissen-Mutterhaus absolviert. Im Oktober 2013 stellte sie sich in Elbingerode vor - und konnte sich doch nicht entscheiden. "Vom Herzen wusste ich, dass ich hierhergehöre, aber der Kopf hat nicht mitgespielt." Dann besuchte sie unerkannt den Sonntagsgottesdienst, sie spürt die herzliche Atmosphäre. Und auch der Kopf willigte ein.
Für die frischgebackene Schwester Janina ändert sich das Leben von Grund auf. Ihr Leben besteht aus Arbeit und Gebet, alles in der Gemeinschaft vieler Frauen. Wie alle Diakonissen bekommt sie kein Gehalt, sondern lediglich ein Taschengeld. Ihr Auto hat sie bei den Eltern stehenlassen. "Verzicht gehört dazu. Man hat so die Möglichkeit, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren, auf das Gebet." Den Eltern fällt es schwer, die Entscheidung ihrer Tochter zu akzeptieren. Auf ihre Mutter wirkt das Leben der Schwestern einengend. "Ich fühle mich aber nicht eingesperrt", sagt die Jungdiakonisse, "ich fühle mich frei."
In ihrer jetzigen Form hat die Schwesternschaft keine Zukunft, das ahnt wohl jeder auf dem weitläufigen Gelände des Mutterhauses. Anfang Juli gab es einen Wechsel in der Leitung. 19 Jahre lang hatte Oberin Anita Rost das Schrumpfen der frommen Gemeinschaft beobachtet, zum Abschied sprach sie offen von einer tiefen Krise. Und dennoch ist sie sicher: "Gott geht mit in die Zukunft." Wie die aussieht, ist offen.
Bei Schwester Janina, dem Neuzugang, beginnt der Wandel. Nach altem Brauch wäre sie jetzt zwei Jahre lang Diakonissenschülerin, sie trüge in dieser Zeit eine spezielle Tracht und eine besondere Kastenhaube. "Darauf verzichten wir jetzt", sagt Mutterhaus-Direktor Holmer, "wir können nicht alles so weiter machen wie früher." Das Versprechen lebenslanger Versorgung, das früher jede neue Diakonisse erhalten hat, gibt es bereits seit Anfang des Jahrtausends nicht mehr. Niemand könnte Schwester Janina garantieren, dass es noch Diakonissen gibt, wenn sie selbst alt ist und Pflege braucht. Stattdessen erwirbt sie nun Rentenansprüche, als wäre sie bei einem normalen Arbeitgeber.
Das Elbingeröder Führungs-Duo, Pastor Holmer und die neue Oberin Kerstin Malych, ist bereit für Änderungen. Auch für sehr grundlegende. "Ist es Auftrag der Schwestern, eine Haube zu tragen?", fragt Holmer. "Ist es unser Auftrag, die Ehelosigkeit zu propagieren?" Seine Antwort: Nein, ist es nicht - es geht darum, das Evangelium weiterzutragen, die Botschaft von Jesus Christus. "Vielleicht gibt es hier eines Tages keine Schwesternschaft mehr, aber Menschen kümmern sich um Migranten oder traumatisierte Menschen, dann wäre das auch eine gute Lösung."
1899 wurde die Schwesternschaft in Ostpreußen gegründet. Vier Frauen machten den Anfang. Im westpreußischen Vandsburg wuchs die Gemeinschaft später weiter, bis die Stadt 1920 an Polen fiel und der Großteil der Schwestern flüchtete. Im Harz bauten sie sich eine neue Heimat auf, das Haus "Neuvandsburg" in Elbingerode. 1945 kamen auch die letzten westpreußischen Diakonissen in den Westen - bei Osnabrück gründeten sie das Haus "Altvandsburg".
Umbrüche gehören zur Geschichte der Schwestern. Gottvertrauen ebenso. "Ich glaube, dass es immer Menschen geben wird, die von Gott in bestimmte Aufgaben berufen werden", glaubt Schwester Kerstin, die neue Oberin.
Sie selbst ist als Atheistin aufgewachsen, in Braunsbedra bei Merseburg. Als junge Frau suchte sie Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens, bis der hallesche Studentenpfarrer sie eines Tages nach Elbingerode mitnahm. "Da habe ich gespürt: Hier gehörst du hin." 1987 trat die gelernte Physiotherapeutin der Schwesternschaft bei. Ihr Arbeitsbereich: das Schwimmbad mitsamt den Wannenbädern und Massageräumen, direkt unter dem Kirchsaal des Mutterhauses.
Vor ein paar Jahren bereits wurde sie zur künftigen Oberin auserkoren. Eine Leukämie-Erkrankung im Jahr 2013 verhinderte das. Jetzt, nach ihrer Genesung, hat sie die Aufgabe doch übernommen.
Besuchern zeigt sie gern die Tonskulptur, die eine Schwester für den Altarraum des Kirchsaals gestaltet hat. Es ist eine schmächtige Frauengestalt, die eine Kerze in den Händen trägt - als Symbol für die Botschaft Jesu. Wer genau hinsieht, erkennt, dass die Figur eine schiefe Schulter hat. Das war keine Absicht: Der Ton ist vor dem Brennen zusammengesackt. Für die Oberin ist das kein Makel, sondern ein Symbol. "Die Diakonisse muss Schläge aushalten", sagt Schwester Kerstin. "Aber sie bleibt doch die Lichtträgerin."