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Jeder sechste Schüler wird Opfer / Elfjährige aus Sachsen-Anhalt erzählt, wie sie tyrannisiert wurde Mobbing: Dauerschikane auf dem Pausenhof

Von Elisa Sowieja 13.09.2013, 03:07

Magdeburg l Seit die Sommerferien vorbei sind, quälen sich manche Kinder wieder mit Bauchschmerzen aus dem Haus. Schuld sind Mitschüler, die sie immer wieder drangsalieren. Vor Mobbing auf dem Schulhof ist niemand gefeit, sagen Experten.

Die Demütigung, als er ihr im Klassenraum Möhrensaft über den Kopf kippte, war gar nicht das Schlimmste. Auch nicht, dass er sie vor allen "hässlich und dick" nannte - ein 28 Kilo leichtes, elfenhaftes Mädchen wohlgemerkt. Am fürchterlichsten waren für die elfjährige Anna* die Schläge auf die Brust. Fast jeden Tag. Die Tyrannei ihres Mitschülers belastete sie so sehr, dass die Familie schließlich aus ihrem Dorf in der Börde wegzog.

Untersuchungen zufolge wird jeder sechste Schüler früher oder später Opfer von Mobbing. Schläge wie im Fall von Anna sind dabei aber eher die Ausnahme, berichtet Elke Schmidt, die einen Teil der Schulsozialarbeiter in Sachsen-Anhalt koordiniert. Die mehr als 250 Pädagogen werden in allen Schulformen eingesetzt und sitzen so mitten im Geschehen. Schmidt zufolge werden Mitschüler vor allem mit Hänseleien und Beschimpfungen drangsaliert. Mobbing heißt das Ganze aber erst, wenn das Hänseln zur Dauerschikane wird.

"Morgens hatte ich Fieber und Bauchschmerzen, nachts kamen die Albträume." - Anna (11), Mobbingopfer

Sätze wie "Ih, du stinkst" oder "Guck mal, was die für ne hässliche Hose an hat" sind für sich genommen meist verkraftbar. Doch in der Summe werden sie schnell zum Problem. "Wenn jemand dauerhaft gehänselt wird, beschämt ihn das immer stärker", sagt Professor Hans-Henning Flechtner, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Magdeburger Universitätsklinikum. Umso beschämter ein Kind ist, desto mehr schadet es seinem Selbstbewusstsein und löst Angst vor der Schule aus. Diese Angst macht sich ihm zufolge oft auch körperlich bemerkbar - etwa durch Schwitzen, Bluthochdruck und Erbrechen.

Auch Anna nahmen die Mobbing-Attacken körperlich mit. "Morgens hatte ich immer Bauchschmerzen und einmal sogar Fieber", sagt das Mädchen schüchtern. Außerdem nahm sie vier Kilo ab. Auch Albträume verfolgten sie, erzählt die Kleine weiter: "Ich hab\' geträumt, er will mich umbringen."

"Vielen Mobbing-Tätern ist gar nicht bewusst, was sie da anrichten", sagt Thomas Kohlmeyer. Als Sozialarbeiter bei der Jugendberatung der Polizei spricht er mit einigen von ihnen. Es hätte mal einen Jugendlichen gegeben, erzählt er, der angezeigt wurde, weil er einen Jüngeren im Bus drangsaliert hat. Mal musste der Kleine ihm seine Stulle geben, mal von seinem Platz aufstehen. "Als ich ihm gesagt habe, dass sich das Kind nicht mehr zur Schule traut, hat er mich mit großen Augen angeguckt und gesagt: ¿Was? Ich wollte doch gar nicht, dass er Angst hat!\'" Manchmal hören die Täter auf, wenn man ihnen klarmacht, wie sich die Opfer fühlen, sagt Kohlmeyer. Bei Annas Mitschüler war das nicht der Fall.

Der Elfjährigen zu helfen, das hat sich keiner in der Klasse getraut, sagt sie. In den meisten Fällen ist zwar gar keine körperliche Gewalt zu befürchten. Doch trotzdem greifen Mitschüler oft nicht ein, sagt Kohlmeyer. Aus Gesprächen, die er mit Klassen geführt hat, weiß er: "Sie haben Angst, dass sie zum letzten Glied in der Kette werden. Deshalb schauen so viele weg oder sticheln mit." Denn vor Mobbing ist ihm zufolge niemand gefeit. Cathleen Spatzier, schulpsychologische Beraterin, bestätigt das: "Die Literatur sagt, jeder kann betroffen sein." Auch keine Schulform sei ausgenommen. Laut Untersuchungen sind vor allem die Klassen sechs bis acht betroffen.

Doch wie werden Täter bestraft? Im Fall von Anna gar nicht. Ihr Ex-Mitschüler ist jünger als 14 Jahre und somit nicht strafmündig. Ältere können angezeigt werden - allerdings nicht wegen Mobbings. Denn diese Tat gibt es im Gesetz nicht. Die Anzeigen lauten stattdessen auf Bedrohung, Beleidigung, Verleumdung oder Körperverletzung. Das macht es auch schwierig, Mobbing statistisch zu erfassen. Die Polizei im nördlichen Sachsen-Anhalt kann nur diese vier Kategorien in Kombination mit dem Tatort Schulhof abrufen. 331 solcher Anzeigen gab es demnach 2012, im Vorjahr waren es 337. Das Strafmaß reicht von Arbeitsstunden über Geldauflagen bis hin zur Jugendstrafe.

"Mobbing in der Schule kann man zu Hause entkommen, Cybermobbing nicht." - Matthias Schmidt, Medienanstalt

Aus der Erfahrung von Schulsozialarbeitern und -Psychologen ist Mobbing in den vergangenen Jahren zwar nicht häufiger geworden. Allerdings hat sich die Art geändert: Auf dem Vormarsch sind Gängeleien über das Internet, sogenanntes Cybermobbing. Als Plattform dienen vor allem soziale Netzwerke wie Facebook, Schüler CC und Jappi, sagt Matthias Schmidt von der Medienanstalt Sachsen-Anhalt. Die Täter - meist kann man sie nicht identifizieren - schreiben Beleidigungen auf die Seiten ihrer Opfer oder legen sich in deren Namen Profile an, auf die sie etwa peinliche Videos stellen. Aber auch per Handyprogramm Whats App und Massen-E-Mails wird gehänselt. Laut einer Forsa-Umfrage war bereits jeder dritte Jugendliche in Deutschland Opfer. Der größte Unterschied zu Gängeleien auf dem Pausenhof: "Mobbing in der Schule kann man zu Hause entkommen, Cybermobbing nicht", sagt Schmidt.

Egal, ob auf dem Schulhof oder im Internet - Erwachsene sollten sich nicht immer einmischen. Davon ist Psychiater Flechtner überzeugt. "Jugendliche müssen ihre Rangordnung finden. Deshalb sollte man sie ihre Probleme erst unter sich regeln lassen." Eingreifen müsse man, wenn jemand nicht mehr zur Schule gehen möchte, er beklaut oder geschlagen wird.

Suchen Schüler Hilfe, sind die ersten Ansprechpartner Lehrer und Schulsozialarbeiter. Wenn man sich dort nicht gehört fühlt - bei Anna war das der Fall -, helfen zum Beispiel Schulpsychologen wie Cathleen Spatzier. Allgemein empfiehlt sie, sich jemandem anzuvertrauen und ein Mobbingtagebuch zu führen. Am besten ist es aber, vorbeugend etwas zu tun - da sind sich die Experten einig. Psychiater Flechtner hält etwa Rollenspiele für hilfreich.

Diese sind auch Teil von Projektwochen, für die das Kultusministerium und die Techniker Krankenkasse seit einem Jahr Lehrer ausbilden. Rund 60 Schulen haben bisher mitgemacht. Zu Gefahren des Internets gibt es Projekttage von der Landesmedienanstalt.

Anna war in ihrer neuen Schule neulich selbst Teil eines Anti-Mobbing-Projekts: Vor der Klasse hat sie ihre Geschichte erzählt. Dort wird wohl niemand so schnell auf die Idee kommen, einen Mitschüler zu drangsalieren, glaubt sie: "Als ich erzählt habe, was mir passiert ist, haben sie nämlich ganz schön geschluckt."

* Name geändert