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Mordprozess Li Angeklagte in Kindheit traumatisiert

Im Dessauer Prozess um die ermordete chinesische Studentin berichtet Experte von Gewalt und Missbrauch der Angeklagten.

24.04.2017, 09:31

Dessau-Roßlau (dpa) l Von klein auf fühlt sie sich ungewollt. Sie wird vom Stiefvater sexuell missbraucht, hat extreme Verlustängste und Minderwertigkeitskomplexe: Im Dessauer Mordprozess hat ein Gutachter auch der angeklagten 21-Jährigen eine Persönlichkeitsstörung attestiert. Die Erlebnisse aus der Kindheit, vor allem der Missbrauch, hätten die junge Frau traumatisiert, sagte der Psychiater Bernd Langer am Montag am Dessauer Landgericht. Zuvor hatte er bereits dem gleichaltrigen mitangeklagten Ex-Freund der Frau eine Persönlichkeitsstörung bescheinigt – allerdings ganz anderer Art. Der Mann sei gefühlskalt, neige zu Sadismus und Dominanz.

Das frühere Paar steht wegen Vergewaltigung und Mordes an einer 25 Jahre alten Studentin vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Duo vor, ihr Opfer im Mai 2016 bei einer Joggingrunde unter einem Vorwand in eine leerstehende Wohnung gelockt, vergewaltigt und gequält zu haben. Später war die die Leiche der chinesischen Architekturstudentin mit massiven Verletzungen in einem Gebüsch entdeckt worden.

Der mitangeklagte 21-Jährige schweigt zu den Vorwürfen. Die Studentin war im Mai 2016 mit massiven Verletzungen tot in einem Gebüsch in Dessau-Roßlau entdeckt worden. Kurz darauf wurde das Paar festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Der Psychiater empfahl, die Angeklagte nach Jugendstrafrecht zu behandeln.

Das Landgericht versucht mit Zeugenaussagen, Videoaufzeichnungen, Spuren und Daten, die Tatnacht zu rekonstruieren. Die beiden Angeklagten schwiegen zunächst. Im Januar machte die Angeklagte dann überraschend eine Aussage.

Dabei räumte sie ein, das Opfer auf Druck des Mitangeklagten in die Wohnung gelockt zu haben. Sie will sich jedoch immer wieder seinen Anweisungen entzogen haben. Mehrfach habe sie für längere Zeit den Tatort verlassen, um in der darüberliegenden Wohnung nach den Kindern zu sehen, sagte sie. Die Vergewaltigung will sie zwar teilweise mitbekommen haben, gab der Gutachter aus den vier Gesprächen mit der 21-Jährigen wieder. Von schweren Verletzungen und der Tötung will sie nichts bemerkt haben. "Dass es zu Gewalt kommen würde, das musste der Angeklagten klar sein – und das wurde ihr auch unmittelbar zu Beginn des Tatgeschehens vor Augen geführt", sagte Langer. Sie habe aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht vorher die Reißleine gezogen.

Die junge Frau zeige ein Muster weitgehender Schwäche, sei angstgeleitet und auf Bezugspersonen angewiesen. Die Mutter von zwei Kindern sei unreif. Der Psychiater empfahl, die Frau nach Jugendstrafrecht zu behandeln. Beim Ex-Freund der Angeklagten hatte der Gutachter Anfang April angeregt, ihn als Erwachsenen anzusehen. Seine Persönlichkeitsentwicklung sei abgeschlossen.

An den Schilderungen der 21 Jahre alten Frau zur Tatnacht meldete der Psychiater in seinen gut zweistündigen Ausführungen Zweifel an. Sie seien mitunter nicht logisch und nicht aus einem Guss. Einige Widersprüche zum Ablauf habe er nicht auflösen können, etwa wie das Opfer nach der Tat aus der Wohnung zum späteren Fundort gebracht worden sein soll.

Vor allem eine quälende Frage habe er sich selbst und der 21-Jährigen immer wieder gestellt: "Wenn die Angeklagte erkannt hat, dass Hilfe nötig und auch möglich ist, warum hat sie nicht die Polizei gerufen?" Das hätte die Qualen des Opfers und auch ihre eigene beenden können, sagte Langer. Diese Option müsse ihr bewusst gewesen sein. Warum sie es trotzdem nicht tat, könne nur die Angeklagte selbst beantworten.