Im Interview sprechen Mitarbeiter des Projektes Freistil in Halle über das wachsende Engagement Jugendlicher und die Demografie-Debatte "Nein, ich engagiere mich nicht. Aber ich bin in der Schul-AG!"
In diesem Jahr lobt das Projekt "Freistil - Jugend engagiert in Sachsen-Anhalt" der Freiwilligenagentur Halle den 10. Jugendengagementwettbewerb aus, bei dem 14- bis 27-Jährige für ihre Projekte ausgezeichnet werden. Im vergangenen Jahr verzeichnete der Wettbewerb einen neuen Teilnehmerrekord - trotz schwindender Kinderzahlen. Woran das liegen könnte, darüber hat Volksstimme-Redakteur Andreas Stein mit Jana Kruse, Deborah Heynen und Stefan Vogt gesprochen.
Volksstimme: Durch Geburtenrückgang und Abwanderung gibt es immer weniger junge Menschen in Sachsen-Anhalt. Scheinbar sind sie aber immer engagierter. Warum?
Stefan Vogt: Das ist eine schwere Frage. Wir wissen nicht, ob Jugendliche allgemein engagierter sind. Beim Jugendengagement-wettbewerb gibt es jedoch immer mehr Bewerber, erfreulicherweise vor allem aus den Schulen. Das liegt sicher auch daran, dass der Wettbewerb nach fast zehn Jahren eine gewisse Bekanntheit besitzt und wir uns landesweit gut vernetzt haben. Wir stellen auch fest, dass viele Projekte nicht nur ein Jahr, sondern sehr viel länger laufen, zum Beispiel der Verein Postkult aus Halle oder das Jugendforum und "Heb deine Hand für Courage" aus Magdeburg. Die Jugendlichen haben mittlerweile selbst Vereine gegründet und bewegen andere dazu, sich zu engagieren. Das freut uns.
Volksstimme: Hat sich in den vergangenen zehn Jahren auch etwas an der Einstellung der Jugendlichen geändert, was Engagement angeht?
Deborah Heynen: Sie sehen vieles von dem, was sie machen, gar nicht als Engagement. Wenn man mit ihnen spricht, sagen sie: "Nein, ich engagiere mich nicht." Aber wenn man nachfragt, erfährt man, dass sie in der Schul-AG, im Theater oder im Sportverein aktiv sind.
Jana Kruse: Jüngere Jugendliche müssen wir mehr darauf stoßen, was sie machen können, als Ältere. Und durch die Einführung des Bachelor/Master-Systems an den Universitäten und die damit einhergehende Verschulung geht die Zahl der engagierten Studenten spürbar zurück. Sie haben schlicht weniger Zeit und Freiräume für ein Ehrenamt.
Volksstimme: Liegt es im Wesen des Menschen, sich zu engagieren?
Stefan Vogt: Der Mensch ist grundsätzlich sozial und braucht ein entsprechendes Umfeld. Die Frage ist, wo er das findet. Viele Menschen sind auch völlig zufrieden damit, etwas für sich, die Familie oder ihr nahes Umfeld zu machen. Das ist auch Engagement, aber kein gesellschaftliches. Wenn junge Leute sich öffentlich engagieren, machen sie das nicht aus egoistischen Motiven, sondern weil sie etwas für die Gesellschaft tun wollen.
Volksstimme: Meistern engagierte Jugendliche ihren weiteren Lebensweg besser?
Stefan Vogt: Pauschal können wir das nicht sagen, weil wir nicht wissen, was aus den Nicht-Engagierten wird. Bei den Jugendlichen, die wir länger begleiten, sieht man aber eine enorme Persönlichkeitsentwicklung, einen Reifungsprozess: Aus dem Kind wird da in wenigen Jahren der Landesschülerrat. Das ist schön zu sehen. Meine persönliche Meinung ist: Wer sich engagiert, ist besser fürs Leben gewappnet, kann besser auf Probleme reagieren, lernt, wie man mit Menschen umgeht und Ziele erreicht.
Volksstimme: Gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land, was das Engagement Jugendlicher angeht?
Jana Kruse: Viele der Bewerber des Wettbewerbs kommen seit Jahren vor allem aus den großen Städten des Landes und dem Harz. Warum daher, wissen wir nicht genau. Generell ist es für Jugendliche auf dem flachen Land schwerer, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Sie können sich kaum als Gruppe treffen, weil sie auf die Abfahrtszeiten der Schulbusse angewiesen und so lange unterwegs sind, dass sie abends einfach keine Lust mehr haben. Und sie müssen interessierte Mitstreiter in der schwach bewohnten Region finden.
Stefan Vogt: Wenn, dann machen sie in ihren Heimatorten etwas. Mir fällt da Tom aus Möringen in der Altmark ein. Er ist spastisch gelähmt, sitzt im Rollstuhl und hat dennoch eine Gemeindebibliothek aufgebaut. 2009 hat er dafür den Einzelpreis im Freistil-Wettbewerb bekommen.
Volksstimme: Wie reagieren denn die Altersgenossen, wenn Jugendliche ein Projekt anstoßen?
Jana Kruse: Lehrer und Schulsozialarbeiter berichten uns, dass Engagement in hohem Maße ansteckend ist. Die anderen sehen, was man damit erreichen kann. Deshalb ist es uns so wichtig, junge Leute miteinander in Kontakt zu bringen. Sie dürfen und sollen voneinander abgucken, damit nicht jeder bei Null anfangen muss. Wir können zwar helfen, aber die Idee muss von den Jugendlichen kommen und machen müssen sie es auch selbst.
Deborah Heynen: Sekundarschüler lassen sich übrigens leichter begeistern, sie denken freier und haben mehr Fantasie. An Gymnasien läuft die Ideenfindung für neue Projekte oft zäher, weil die Schüler schon weiterdenken und ihre Kreativität quasi gleich an der Realität kappen.
Volksstimme: Im Rahmen der Demografie-Debatte wird gerade darüber diskutiert, dass Senioren sich auch mehr in Ehrenämtern engagieren sollten, weil der Staat sich immer mehr aus dem sozialen Bereich zurückzieht. Gilt das auch für Jugendliche?
Stefan Vogt: Für uns hat Engagement nichts mit Müssen zu tun, sondern mit Wollen. Wenn der Staat seinen freiwilligen Aufgaben aus finanziellen Gründen nicht mehr nachkommen kann oder will, darf er aber niemanden verpflichten, diese Leistungen zu übernehmen - nicht Senioren und schon gar nicht Jugendliche. Sie müssen sich vielmehr um sich und ihre Persönlichkeitsentwicklung kümmern. Wenn die Jugendlichen das machen, weil sie ein Defizit sehen, ist das etwas anderes. Natürlich ist Jugendarbeit eine freiwillige Leistung des Staates und in schlechten Zeiten wird da gespart. Aber es wäre ein schlechtes Signal, wenn Jugendliche sich freiwillig engagieren und dafür ihr Jugendclub geschlossen wird. Das sollten Politiker und Kommunen überdenken.